Wie die Ampel Deutschlands Gesellschaft umkrempeln will

Leitartikel von André Bochow zu den gesellschaftspolitischen Ampel-Plänen

Noch sind die meisten mit dem Studium des Ampel-Koalitionsvertrages nicht fertig. Kritiker aus allen politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Ecken des Landes munitionieren sich argumentativ.

26.11.2021

Von André Bochow

Aber es mehren sich schon jetzt die Stimmen aus konservativen Milieus (CDU/CSU) und aus dem nationalistisch-völkischen Umfeld (AfD), die fundamentale Veränderungen fürchten. Schaut man ins rot-grün-gelbe „Fortschrittspapier“, dann wird man dort vor allem gewichtige gesellschaftspolitische Vorhaben finden.

Dafür steht nicht zuletzt folgender Satz: „Uns verbindet das Verständnis von Deutschland als vielfältige Einwanderungsgesellschaft.“ Man könnte sagen, damit trägt die Politik nur der gesellschaftlichen Realität Rechnung. Aber eben das ist ein wirklicher Fortschritt. Und mit dem allgemeinen Bekenntnis wollen es die neuen Koalitionäre nicht bewenden lassen. Endlich soll die Zuwanderung von Arbeitskräften nach einem vernünftigen System geregelt werden. Asylbewerbern wird man auch bei noch laufenden Verfahren das Arbeiten ermöglichen, wer fünf Jahre hier gelebt hat und nicht kriminell geworden ist, soll ein einjähriges Aufenthaltsrecht auf Probe bekommen. Auszubildende, die nur geduldet sind, sollen ohne Angst vor Abschiebung ihren Beruf erlernen.

Diese und andere Regelungen können helfen, dass Deutschlands Bevölkerung weniger dramatisch schrumpft, der Arbeitskräftemangel gelindert wird und dass Bereiche wie die stationäre und die häusliche Pflege nicht zusammenbrechen. Und ja, das Land wird dadurch bald so vielfältig, wie es die Fußballnationalmannschaft schon ist. Den Prozess gestalten zu wollen, hat sich die Ampel zumindest vorgenommen. Gut so.

Ob die Legalisierung von Cannabis zum gesellschaftlichen Fortschritt beiträgt, wird man sehen. Ganz sicher aber wird das Schleifen des Strafgesetz-Paragrafen 219a das Land besser machen. Die unsinnige, rückschrittliche Verfolgung von Ärzten, die auf ihre Qualifikation für Schwangerschaftsabbrüche hinweisen, muss ein Ende haben. Bedauerlich ist aber die Inkonsequenz im Koalitionsvertrag. Es ist höchste Zeit, auch den Paragrafen 218 endgültig zu streichen. Der stellt noch immer Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe – auch wenn eine solche meist nicht verhängt wird. Es entspräche einer uralten Forderung nicht zuletzt der SPD, dieses diskriminierende Relikt aus der Vergangenheit endlich abzuschaffen.

Und es wird anderweitige Veränderungen geben. Bei der Sichtweise auf Kinder und Jugendliche zum Beispiel. Kindergrundsicherung, Kinderrechte, Senkung des Wahlalters lauten die Stichworte. Nicht nur Unicef ist begeistert, wenngleich auch hier daran erinnert werden muss, dass es sich vorerst um Pläne, Vorhaben und Projekte handelt. Und selbst wenn alle Vorhaben verwirklicht werden, müssen sich auch Fortschrittsskeptiker nicht die Haare raufen. Das Leben in Deutschland wird sich nicht dramatisch ändern. Jedenfalls nicht wegen der Ampel. Der Fortschritt kommt mit ihr auf eher leisen Sohlen. Vielleicht ist er dafür umso nachhaltiger.