Tübingen zum Anfassen

Wie blinde Menschen bei einer Führung die Stadt erleben können

„Hier schauen sie direkt auf Tübingens Schokoladenseite. Diesen Anblick kennt die ganze Welt: vor ihnen ist der gelbe Hölderlinturm und davor eine schöne, große Trauerweide“ – vertont mir Helga Kansy, meine Gästeführerin. Als blinde Touristin habe ich die Stadtführung „Tübingen zum Anfassen“ gebucht.

14.08.2016

Von Lucia Hoffmann

Tübinger Geschichte fühlen: Die blinde Lucia Hoffmann an der Pforte des Evangelischen Stifts (links Stadtführerin Helga Kansy).Bild: Metz

Tübinger Geschichte fühlen: Die blinde Lucia Hoffmann an der Pforte des Evangelischen Stifts (links Stadtführerin Helga Kansy).Bild: Metz

Wir stehen direkt am Neckarufer. Im Rücken haben wir die Platanenallee. Vor mir höre ich einen Stocherkahn den Neckar entlang schippern. Dahinter zwei kleine Entchen auf dem Fluss. Helga Kansy nimmt mich mit auf eine Entdeckungstour in der schönen Universitätsstadt Tübingen. Die Stadtführung „Tübingen zum Anfassen“, die vom Bürger- und Verkehrsverein Tübingen angeboten wird, richtet sich speziell an blinde und sehbehinderte Gäste der Stadt. Ich bin gespannt, was mich erwartet.

Es ist 9.53 Uhr: Ich stehe vor der kleinen Bäckerei im Bahnhof und warte auf Frau Kansy. Die Tour soll um 10 Uhr starten. Mir geht einiges durch den Kopf: „Tübingen ist doch die Stadt der Dichter und Denker – und eine junge Universitätsstadt.“ Doch dann werde ich auch schon mit einem „Herzlich willkommen in Tübingen!“ von Frau Kansy begrüßt. Gemeinsam treten wir vor den Bahnhof in die Vormittagssonne. Der Weg führt uns zuerst zum Denkmal von Ludwig Uhland. „Der Dichter schaut uns entgegen und begrüßt die Besucher der Stadt“, erklärt Frau Kansy zu der überlebensgroßen Skulptur auf einem Sockel. Leider kann ich sie nicht anfassen.

Über das Indianerstegle gehen wir in die Platanenallee. Hier führt mich Frau Kansy zu einer großen, alten Platane. Ich fühle den dicken, mächtigen Stamm des alten Baumes und spüre dessen Kraft! Es stehen hier 80 alte Platanen, die schon um die 200 Jahre alt sind. Es ist die einzige Allee dieser Art in Deutschland, erfahre ich.

Und kurze Zeit später stehen wir auch schon vor Tübingens berühmtester Ansicht am Neckarufer. Hier erzählt Frau Kansy viel zur Geschichte der Stadt. So ist sie erstmals um 1200 vor Christus erwähnt. Die Stadt hat das große Glück gehabt, niemals vollständig zerstört worden zu sein. Es gibt eine große Altstadt und die Universität ist 1477 gegründet worden. Frau Kansy beschreibt mir auch sehr genau, wie es auf dem gegenüberliegenden Neckarufer aussieht.

Von hier aus gehen wir über die Neckarbrücke entlang des Zwingels (der alten Stadtmauer), vorbei am drei-etagigen Hölderlinturm zur Burse. „Der Zwingel ist aus dem 12. Jahrhundert und einige Steine sind sogar noch original“, erläutert meine Stadtführerin, während ich die alten Steine berühre.

An der Burse angekommen, setzen wir uns auf einen Stein. Hier erfahre ich sehr viel über die Universität früher und heute. So ist die Burse das erste Universitätsgebäude. Es ist aus dem Jahre 1479. Vorher hat die Uni ihre Vorlesungen in der Stiftskirche gehalten. Die Uni hat mit etwa 200 Studenten angefangen. Nach einem Studium Generale der sieben Künste konnte Philosophie, Theologie, Jura und Medizin hier am Neckar studiert werden.

Wir gehen weiter zum evangelischen Stift. Von dort aus führt die Tour durch die Clinicumsgasse zur Münzgasse. Die 64 Stufen in der sehr schmalen Clinicumsgasse machen für mich das besondere Flair der Tübinger Altstadt erkennbar. Im Hintergrund schlägt die Turmuhr des evangelischen Stiftes 11 Uhr.

„Tübingen ist krumm und buckelig“ erklärt Frau Kansy und meint damit nicht nur das Kopfsteinpflaster, sondern auch, dass die Häuser aus dem 15. und 16. Jahrhundert nicht schnurgerade gebaut sind. „Alle alten Häuser hier in Tübingen haben Fachwerk, auch wenn wir es nicht mehr an allen Häusern sehen können“, erfahre ich beeindruckt.

Durch das Wienergässle bergab zum Marktplatz setzen wir unsere Altstadttour fort. Wir stehen nun an der Seite des Rathauses von 1435. Hier macht mich Frau Kansy auf die alten Holznägel im Fachwerk aufmerksam und lässt mich einen der dicken achtkantigen Nägel ertasten. Wir stehen nun mitten auf dem Wochenmarkt. Während hinter mir Salat und Gurken verkauft werden und links einige Leute sich in einem Café unterhalten, beschreibt mir Frau Kansy die Fassade des Rathauses mit der imposanten astronomischen Uhr.

Der Neptun-Brunnen mit seinem Plätschern und ein Marktstand, an dem es nach Oliven duftet, ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich, während wir zu den Skulpturen von Karl-Henning Seemann gehen. Dort angekommen ertaste ich zwei überlebensgroße männliche Figuren. Sie fühlen sich glatt und kühl an. Während die eine von beiden einen Professor darstellt, zeigt die zweite einen Gôg, einen Tübinger Weinbauern. Diese beiden Figuren stehen für den Gegensatz in der früheren Tübinger Bevölkerung.

Auf unserem Weg zum Nonnenhaus kommen wir zum Ammerkanal. Hier säumen Blumen das Geländer. „Eine Tradition, die seit 2001 hier in Tübingen gepflegt wird“, erklärt Frau Kansy den Grund für die riesige Blütenpracht. Ich fühle die unterschiedlichen Blumen und rieche auch an einigen. „Das hat zum 500. Geburtstag von Leonhard Fuchs angefangen“, erfahre ich weiter. Wer war das? „Ein berühmter Gelehrter, der vor allem das Medizinstudium revolutionierte.“ Fuchs verfasste ein Kräuterbüchlein, mit dem alle Mediziner fortan arbeiten mussten. Vor dem Nonnenhaus kann ich eine Marmorskulptur dieses Kräuterbüchleins anfassen. Der helle Marmor ist durch die Sonne gewärmt.

Frau Kansy lässt auch immer Literatur großer Tübinger Dichter in ihre Führung mit einfließen: „Wo befreundete Wege zusammenlaufen, da sieht die ganze Welt für eine Stunde wie Heimat aus“, rezitiert sie Hermann Hesse vor dem Antiquariat Heckenhauer. In dieser Buchhandlung, gegründet 1823, hat Hermann Hesse seine Buchhändlerlehre gemacht. Ehrfürchtig ertaste ich die alte Türe.

Als wir zum Abschluss unserer Führung die Stiftskirche erreichen, schlägt es gerade 12 Uhr. Hier plätschert der Georgsbrunnen, der jedoch aufgrund des großen Geläutes kaum zu hören ist.

Die Autorin:

Lucia Hoffmann, 33, ist seit ihrer Geburt blind, kann aber hell, dunkel und grelles Licht voneinander unterscheiden. Sie hat in Hannover Philosophie, evangelische Theologie und Jura studiert. Seit ihrem Studienabschluss 2011 lebt sie in München und arbeitet als freie Journalistin.

Die Kraft des alten Baumes spüren: Lucia Hoffmann in der Platanenallee.

Die Kraft des alten Baumes spüren: Lucia Hoffmann in der Platanenallee.

Drei besondere Führungen durch Tübingen

Der Bürger- und Verkehrsverein bietet drei besondere Führungen durch Tübingen an:

Tour für Sehbehinderte Eine Stadt „erfassen“ und „begreifen“ – im wahrsten Sinn des Wortes –, das ist das Motto dieser Stadtführung. Sie wurde speziell für Menschen mit Sehbehinderung ausgearbeitet. Maximal 25 Teilnehmer inklusive Begleitpersonen. Auch in englischer Sprache.

Rollstuhl-Tour Trotz Kopfsteinpflaster und diverser, nicht unerheblicher Geländesteigungen, erleben die Teilnehmer/innen auf einer eigens ausgesuchten Fahrtroute die Altstadt – gemeinsam mit einem ebenfalls rollenden Gästeführer. Maximal 10 Rollstuhlfahrer plus Begleitperson. Auch in englischer Sprache.

Tübingen „einfach“ Tübingen spannend erzählt für Menschen mit Lernschwierigkeiten oder solche, die Deutsch als Fremdsprache lernen (A2). Maximal 25 Teilnehmer.

Alle drei Führungen dauern 1,5 Stunden. Kosten: 85 Euro. Infos: 0 70 71/9 13 60

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Erstellt:
14.08.2016, 23:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 16sec
zuletzt aktualisiert: 14.08.2016, 23:00 Uhr

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