Tübinger Wohnungsmarkt: „Das war eine Entmietung“

Wie aus bezahlbaren Altbauwohnungen teure Studentenzimmer wurden

Wie aus bezahlbaren Altbauwohnungen nach Auszug der Vormieter mehr als doppelt so teure Studentenzimmer mit Einzelmietverträgen wurden.

29.11.2017

Von Volker Rekittke

Studentin auf Wohnungssuche: „Wunderschönes helles Dachzimmer mitten in der Altstadt, perfekte Lage“, heißt es auf www.wg-gesucht.de.Der Preis: 505 Euro für 10 Quadratmeter (400 Euro kalt plus 105 Euro Nebenkosten) für das WG-Zimmerle in der Haaggasse. Bild: Rekittke /Montage: Metz

Studentin auf Wohnungssuche: „Wunderschönes helles Dachzimmer mitten in der Altstadt, perfekte Lage“, heißt es auf www.wg-gesucht.de. Der Preis: 505 Euro für 10 Quadratmeter (400 Euro kalt plus 105 Euro Nebenkosten) für das WG-Zimmerle in der Haaggasse. Bild: Rekittke / Montage: Metz

„Das geht auf die Psyche“, sagt Angelika Ehing. Seit das Haus Ulrichstraße 8, in dem sie seit 42 Jahren wohnt, im Juni von der Tübinger SZS-Immobilien GmbH gekauft wurde, rechnet sie ständig mit neuem Ärger. Ihr Bruder Günther, der den oberen Stock bewohnt, ist mittlerweile überzeugt: „Wir werden hier rausgemobbt.“

Einen ganzen Leitz-Ordner füllt der Vorgang bereits. Auch Nachbarn laufen Sturm gegen die Erweiterungspläne des neuen Besitzers, der in den Garten hinein anbauen will. „Aus drei Wohnungen sollen sieben werden, alles WGs“, sagt Angelika Ehing – eine davon soll im Keller des 1931 errichteten Gebäudes entstehen.

Er wolle nur mal kurz in ihren Keller, um das Wasser abzudrehen, habe der Handwerker gesagt, erinnert sich Angelika Ehing. Als sie nach einer Weile nachschaute, sei ein neues Rohr in der Wand gewesen. Vor den jeweiligen Umbauarbeiten gebe es keine Ankündigungen: „Die schaffen einfach Fakten.“ So sei die Tür zum Speicher, privater Mietraum, aufgebrochen worden, weil dort eine Satelliten-Anlage installiert werden sollte. All das sehen die beiden als Teil einer Strategie, Druck gegen die Alt-Bewohner aufzubauen. „Die können unsere Miete nicht so stark erhöhen“, vermutet Angelika Ehing. Bei den vier Studenten, die bereits die erste Etage bewohnen, lasse sich viel mehr holen: Im Internet (wg-gesucht.de) wurde die Vier-Zimmer-Wohnung (87 Quadratmeter) mit 1300 Euro Kaltmiete angeboten.

Günther Ehing kam vor ein paar Tagen frisch operiert aus der Klinik. Seine Heizung wurde vor sieben Monaten bei Umbauarbeiten stillgelegt, die Zuleitungen sind unterbrochen. Seither muss er mit elektrischen Radiatoren heizen. „Unsere Regierung hat es so lange versäumt, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, und die Studentenwerke auch“, sagt der 62-Jährige. „Und jetzt kommt so ein Spekulant und sagt: Ich schaff hier Wohnraum für Studenten.“

„Das riecht nach einer Verzögerungstaktik“, sagt hingegen SZS-Gesellschafter Stefanos Schizas – die Mieter der Ulrichstraße 8 seien fristgerecht über die geplante energetische Sanierung informiert worden. Nach anfänglicher Kooperation – es sei bereits einiges in Keller, Wohnungen und auf dem Speicher umgebaut worden – blockiere man plötzlich alles. Doch warum sollte sich Günter Ehing dagegen wehren, im November wieder eine Heizung zu haben? Alles Taktik, vermutet Schizas: „Bis die Anwälte ins Spiel kamen, war alles in Ordnung. Man nimmt in Kauf, den armen Mann in der Kälte zu lassen.“ Auch er habe sich anwaltlich beraten lassen, sagt Schizas – und zwar von Helmut Failenschmid, der zugleich Vorsitzender der Tübinger Hausbesitzervereinigung Haus & Grund ist.

Die Mieter der Ulrichstraße, so Schizas, „blockieren neun bis zehn Zimmer“, in denen Studenten wohnen könnten – „und das bei dem Wohnungsmangel“. Die Sanierung in dem alten Haus sei schlicht notwendig: „Das ist in einem schlechten Zustand.“ Danach würden die Mieten zwar steigen, aber: „Wir gehen auf alle Mieter zu, wir wollen niemanden draußen haben.“ Den Vorwurf, Mieter würden „rausgemobbt“ oder „rausgeekelt“, weist er zurück.

Angelika Ehing allerdings ist davon überzeugt: „Denen geht es nicht darum, Wohnraum zu schaffen, denen geht es nur ums Geld.“ Sie findet: „Es war Zeit, dass sich mal einer wehrt.“

Nicht nur sie berichtet dem TAGBLATT von ihren Erfahrungen. Walter Fiedler wohnte zwölf Jahre mit Frau und Kind in der Ludwigstraße 16. Bis die Erbengemeinschaft, der das Haus gehörte, sich vor bald einem Jahr zum Verkauf entschloss. Neuer Eigentümer wurde Stefanos Schizas. Fiedler ist überzeugt: „Das Hauptinteresse war, die alten Mieter rauszukriegen, um die Wohnungen viel lukrativer als Einzelzimmer zu vermieten. Das ist eine ganz üble Masche.“ Die Heizung mitten im Winter ausgebaut, Baulärm im Haus bis 22 Uhr am Samstag, ständig neue Einschreiben vom Vermieter, in denen unter anderem die fristlose Kündigung ausgesprochen wurde, so Fiedler: „Wir wussten nie, was am nächsten Tag passiert.“ Der Umbau sei teilweise „Pfusch“ gewesen: „Ich weiß gar nicht, was die für Baugenehmigungen hatten.“ Schließlich zog die Familie aus: „Wir wollten nur noch weg da.“

Drei Jahre wohnte auch Andrea Ziehe (Name geändert) mit Mann und Kindern im Erdgeschoss des Hauses. 600 Euro Kaltmiete bezahlte die Familie für 87 Quadratmeter im unrenovierten Altbau. Was dem Verkauf folgte, waren Monate der Ungewissheit und des zunehmenden Drucks, erinnert sie sich: „Die wollten uns rausschikanieren“, ist Ziehe überzeugt. „Dabei waren wir ja bereit, nach der Sanierung mehr Miete zu zahlen.“

Schließlich hielt die Familie dem Druck nicht mehr stand und zog aus, sobald eine neue Wohnung gefunden war. „Ende April hatten sie uns draußen“, sagt Ziehe. Was wohl von Anfang an das Ziel gewesen sei: „Das war eine Entmietung.“ Bereits drei Jahre zuvor war der Familie gekündigt worden. In jene Wohnung seien danach Studenten eingezogen – mit Einzelmietverträgen.

Einzelmietverträge haben nun auch die vier Mieter/innen, die nach Andrea Ziehe und ihrer Familie in die 87-Quadratmeter-Wohnung zogen. Insgesamt 1450 Euro Kaltmiete (plus 360 Euro Nebenkosten) zahlen die vier Neumieter für die Wohnung. In die kamen zwar neue Fenster, Türen und teils Böden. Die Hausfassade wurde gestrichen. Dennoch: Mit 16,66 Euro Kaltmiete liegt sie weit über den Mietspiegel-Vergleichswerten, die für eine Familienwohnung gelten würden, so die städtischen Wohnraumbeauftragten Julia Hartmann und Axel Burkhardt. Sie errechneten für eine solche Wohnung oder auch für eine WG mit Gesamtmietvertrag eine Vergleichsmiete von höchstens 8,50 Euro pro Quadratmeter. Doch die Familienwohnung gibt es nicht mehr. Und Einzelmietverträge in Wohngemeinschaften werden vom Tübinger Mietspiegel nicht erfasst. Der betrachtet ohnehin nur die Mieterhöhungen und (teuren) Neuvermietungen der letzten vier Jahre. Weshalb die Mietervereine fordern, wenigstens die Mietdaten der letzten zehn Jahre als Mietspiegel-Basis zu nehmen.

Zwar gilt auch für WG-Einzelverträge die Mietpreisbremse. Es ist aber ohne Mietspiegel ziemlich kompliziert, für solche Zimmer die Vergleichsmiete zu bestimmen: Auf Verlangen der Mieter lässt der Vermieter ein Sachverständigengutachten erstellen oder er benennt drei Vergleichsobjekte. Und sonst? „Es wäre gut, wenn mal jemand ein Verfahren wegen Mietwucher anstrengen würde“, sagt Karl Böhmler vom Mieterbund.

Studie: Mieter in Deutschland zahlen jedes Jahr mehr als 300 Millionen Euro zuviel

In Baden-Württemberg gilt die gesetzliche Mietpreisbremse seit dem 1. November 2015 – und zwar in Kommunen wie Tübingen mit angespanntem Wohnungsmarkt und nur für fünf Jahre, also noch bis Oktober 2020. Das Gesetz sieht vor, dass die Miete beim Abschluss eines neuen Mietvertrages maximal zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen darf – außer, die Vormiete lag bereits darüber. Neubauten und umfassend sanierte Wohnungen sind ausgenommen.

Doch häufig halten Vermieter sich nicht an die Regelung. Deutschlandweit werden pro Jahr Mietverträge für etwa 310 Millionen Euro über das in der Mietpreisbremse vorgesehene Niveau hinaus abgeschlossen, so eine Studie des Vereins Miettest im Auftrag der Grünen-Bundestagsfraktion. Bis zum Ende der Gültigkeit des Gesetzes, also binnen fünf Jahren, steigt diese Summe laut Untersuchung auf etwa 1,5 Milliarden Euro an. „Bricht man dies auf den einzelnen Mieter herunter“, heißt es dort weiter, „so zahlt dieser pro Monat rund 140 Euro mehr als vorgesehen (etwa 960 statt 820 Euro). Das entspricht einer durchschnittlichen Mehrbelastung von etwa 1700 Euro pro Jahr für die betroffenen Mieter.“

„Menschen mit geringem oder auch normalem Einkommen haben bei solchen Mieten keine Chance“, sagt der wohnungspolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion Chris Kühn – nicht die Alleinerziehende mit zwei Kindern, aber auch nicht die vierköpfige Familie mit mittlerem Einkommen und nur einem Verdiener. „Solche Mieten führen zu Verdrängung von Menschen aus Städten wie Tübingen“, so der Tübinger Bundestagsabgeordnete: „Ich kann nur jedem Betroffenen raten, die Miete beim Mieterbund oder bei Plattformen wie www.wenigermiete.de überprüfen zu lassen.“ Aber: „Ohne eine Begrenzung bei den Neuvertragsmieten werden wir die Situation nicht in den Griff kriegen.“

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Erstellt:
29.11.2017, 01:30 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 59sec
zuletzt aktualisiert: 29.11.2017, 01:30 Uhr

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