TAGBLATT-Spendenaktion: Schmerzen und Ungewissheit

Wie Ärzte des Zentrums für seltene Erkrankungen der Krankheit von Lukas Lakner auf die Spur kamen

Dreizehn Monate war Lukas Lakner alt, als er das erste Mal dieses hohe Fieber bekam. „Für uns kam das ganz plötzlich“, erinnert sich seine Mutter. Um die 41 Grad hatte der Kleine, „und das ging eine Woche lang“.

14.12.2017

Von Ulrich Janßen

Es geht aufwärts: Stephanie und Lukas Steffen Lakner im TAGBLATT. Bild: Metz

Es geht aufwärts: Stephanie und Lukas Steffen Lakner im TAGBLATT. Bild: Metz

Stephanie Lakner wohnt mit ihrer Familie in Durlangen, einer knapp 3000 Einwohner zählenden Gemeinde auf der Ostalb. Heute kann sie einigermaßen entspannt über die Krankheit ihres Kindes sprechen, damals aber hatte sie schreckliche Angst um Lukas. Denn: Die Kinderärztin fand keinen Grund für das hohe Fieber. Keine Mittelohrentzündung, kein Scharlach, kein Magen-Darm-Infekt.

Die Krankenhaus-Ärzte im nahen Mutlangen tippten auf Pfeiffersches Drüsenfieber, doch so richtig passten die Symptome nicht zu dieser Art Infektion. Dann entdeckten sie im Ultraschallbild, dass Lukas einen Herzbeutelerguss hatte. Um sein kleines Herz herum sammelte sich eine gallertartige Flüssigkeit und drohte, den Muskel „einzumauern“, wie Stephanie Lakner es beschreibt. Unbehandelt kann das dazu führen, dass das Herz aufhört zu pumpen. Für die Mutlanger Ärzte ein Grund, das Kind schleunigst nach Stuttgart auf die Intensivstation des Olga-Hospitals zu verlegen.

Heute geht es dem Jungen wieder gut. „Ich bin gesund“, sagt er stolz. Die vielen Spritzen, die er in den vergangenen Jahren bekam, die schlimmen Bauchschmerzen, die ihn immer wieder quälten: Alles abgehakt. Mutter Stephanie freut sich über ihren selbstbewussten Vierjährigen, doch sie hat nicht vergessen, wie sie damals in der Intensivstation angstvolle Nächte auf einer Pritsche neben Lukas verbrachte.

Die Stuttgarter Ärzte punktierten den prallgefüllten Beutel und, als das nicht genügte, holten sie in einer mehrstündigen Operation mit einem scharfen Löffel die zähe Flüssigkeit aus dem Herzbeutel heraus. Vier Wochen blieb Lukas insgesamt im Olga-Hospital.

„Ich dachte, danach ist es wieder gut, das ist eine einmalige Sache“, erinnert sich Lakner. Doch dann, nach gerade mal drei Wochen, ging es wieder los. Der Herzbeutel füllte sich erneut. Wieder musste das Kind nach Stuttgart und punktiert werden. Diesmal tippten die Ärzte auf eine bakterielle Infektion und pumpten ihn vorsichtshalber mit Antibiotika voll.

Der Erfolg hielt sich in Grenzen. Zwar konnte er das Krankenhaus verlassen, doch blieb Lukas anfällig für Krankheiten. Immer wieder bekam er Probleme: Eine Entzündung in den Gelenken stellte sich ein, und gleich dreimal entzündete sich die Bauchspeicheldrüse, was enorm schmerzhaft war für das Kind. Die Ärzte in Mutlangen waren ratlos und litten mit der Familie, der sie nicht helfen konnten. „Die zuckten schon zusammen, wenn sie nur unseren Namen hörten.“

Es war die Kinderärztin, die eines Tages auf die Idee kam, das Zentrum für seltene Erkrankungen (ZSE) einzuschalten. „Das war eine sehr fitte Frau“, meint Lakner, „die hat überall im Internet gesucht, was man in diesem Fall machen könnte.“ Die Mutlanger Ärzte ließen sich überzeugen und überwiesen Lukas nach Tübingen in das Zentrum für seltene Erkrankungen.

Das ZSE, für das das TAGBLATT in diesem Jahr sammelt, wurde 2010 am Tübinger Universitätsklinkum als bundesweit erste Einrichtung dieser Art gegründet. Die Ärzte, die zum Netzwerk des Zentrums gehören, widmen sich gezielt jenen Krankheiten, die nur wenig erforscht werden, weil sie so selten auftreten. Viele von ihnen haben nicht einmal einen Namen.

Lukas war ein typischer Patient für das ZSE: Die Ärzte hatten in seinem Fall weder eine Diagnose noch eine Therapie. Was verbindet so unterschiedliche Symptome wie hohes Fieber, Herzbeutelerguss, Gelenkentzündung und Bauchspeicheldrüsenentzündung? Symptome, die praktisch aus dem Nichts auftauchten? Ohne dass es eine Verletzung oder Infektion gab? Das waren die Fragen, die sich die Mediziner stellten. Zuständig für Lukas war Prof. Jasmin Kümmerle-Deschner. Die Kinderärztin und Rheumatologin hatte bald einen Verdacht: Es könnte sich um eine sogenannte „autoinflammatorische Erkrankung“ handeln.

Entzündungen sind normalerweise Reaktionen des Körpers auf Krankheitserreger oder andere Eindringlinge. Bei der Gruppe der autoinflammatorischen Krankheiten treten Entzündungen ohne solche Anlässe auf, also gewissermaßen von selbst („auto“). Der Grund ist eine Störung des angeborenen Immunsystems, die wiederum mit Mutationen des Erbguts zusammenhängt. Mit Hilfe von Gentechnik kann man heute nach solchen Mutationen suchen.

Bei Lukas führten die ersten gezielten genetischen Analysen zu keinem Resultat. Erst bei einem großangelegten Screening des Genoms entdeckten die Spezialisten eine ungewöhnliche Veränderung: Eine Mutation, die bislang noch in keiner Krankheitsdatenbank aufgetaucht war. Konnte sie der Grund für Lukas’ Symptome sein? Eine Anfrage beim amerikanischen National Institute of Health ergab, dass es weltweit keinen einzigen Patienten mit dieser Art Mutation gab: „Wir waren deshalb unsicher: Passt diese Mutation zu der Erkrankung?“

Kümmerle-Deschner konsultierte einen Immunologen, der sich auf Zellebene ansah, ob die unbekannte Mutation eventuell zu einer erhöhten Produktion von Interleukin 1 führen konnte. Im gesunden Körper bekämpft dieser Botenstoff als Teil der Immunabwehr potenzielle Krankheitserreger. Gibt es aber zuviel Interleukin 1 im Blut, kann das auch ohne äußeren Anlass ständige Entzündungen bewirken. Speziell die Gelenke, aber auch das Gehirn können davon betroffen sein.

Das Ergebnis war: „Es passte, wir konnten den Zusammenhang auf Zellebene nachweisen.“ Ein Glücksfall. Und nicht der einzige in diesem Fall. Denn die Ärzte hatten nicht nur eine Krankheit gefunden, sie konnten auch gleich auf eine Therapie zurückgreifen. Gerade erst war nämlich ein Medikament freigegeben worden, das überschüssiges Interleukin 1 bindet und unschädlich macht. Täglich spritzten die Mediziner dem Kind deshalb eine Dosis des Medikaments – eine weitere Tortur in Lukas’ langer Krankheitsgeschichte. „Das war der Horror für ihn, jeden Tag eine Spritze“, meint seine Mutter.

Immerhin: Die Spritzen halfen. „Lukas ist heute wieder richtig fit, er rennt herum, geht jeden Tag in den Kindi, hat kein Fieber mehr“, freut sich die Mutter. Mittlerweile bekommt der Vierjährige nur noch einmal im Monat eine Spritze. „Die macht mir gar nichts“, meinte der Vierjährige im TAGBLATT und hob ganz cool den Daumen – sehr zum Erstaunen von Mutter und Ärztin.

Nach dem Interview gingen alle drei deshalb noch auf die Chocolart, um ein bisschen zu feiern. „Das hat der Junge verdient“, meinte Kümmerle-Deschner.

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Die „seltenen Krankheiten“ sind in diesem Jahr Projekt 2, Projekt 1 ist „KIKE“.

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Erstellt:
14.12.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 10sec
zuletzt aktualisiert: 14.12.2017, 01:00 Uhr

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