Wem die Stunde schlägt

Weshalb in Kirchentellinsfurt die Totenglocke so oft läutet

Eine neue Läuteordnung sorgt in Kirchentellinsfurt für Irritationen. Die bisher als Totenglocke bekannte Glocke ersetzt seit ein paar Wochen die Betglocke und läutet daher mehrfach täglich.

13.08.2016

Von Uschi Hahn

Nein, Kirchentellinsfurt droht nicht auszusterben. Aber mancher alteingesessener Kirchemer hat da inzwischen so seine Zweifel. Denn Tag für Tag werden die Bewohner des alten Ortskerns seit kurzem vom Läuten jener Glocke aufgeweckt, die sie seit jeher als Totenglocke kennen: Ein satter Mollton schallt schon morgens um 6 Uhr vom Turm der Martinskirche herab. Auch um 12 und um 18 Uhr scheint die auf e gestimmte Glocke jemandem das letzte Stündlein zu schlagen. Ebenso, wenn im Gottesdienst das Vaterunser angestimmt wird.

Dabei war die Glocke bisher als Solistin nur zu vernehmen, wenn ein Verstorbener zur Beerdigung wieder in den Ort überführt wurde. Und danach noch einmal, wenn der Sarg oder die Urne von der Kirche zum Grab getragen wurde.

„Viele wundern sich. Keiner weiß Bescheid.“ Mit diesen Worten wandte sich jetzt Werner Kobza ans TAGBLATT und bat um Aufklärung. Kobza lebt seit 40 Jahren im alten Kirchentellinsfurter Ortskern. Er ist katholisch. Das Läuten von der evangelischen Martinskirche hat er dennoch gut im Ohr. „Die Glocke ist allen Bewohnern als Totenglocke bekannt“, sagt er und kann nicht verstehen, weshalb sie nun mehrfach täglich zu hören ist

Er ist nicht der einzige, der sich am ständigen Läuten der größten Glocke im Turm der Martinskirche stört. Auch der Gemeindediakon Wolfgang Dressler wurde schon öfter angesprochen. Ebenso die Mesnerin Ute Deregowski. Sie war es, die Ende Juni das Geläut der Martinskirche umgestellt hat. Sie handelte auf Anweisung des evangelischen Pfarrers von Kirchentellinsfurt Michael Odenwald.

Der kann das Rätsel auch ganz schnell lösen. Es gebe eine neue Läuteordnung, sagt der Pfarrer. Sie sei im Kirchengemeinderat beschlossen und sowohl im evangelischen Kirchenblatt als auch im Mitteilungsblatt der Gemeinde veröffentlicht worden. Man will mit der Umstellung Kirchentellinsfurts älteste Glocke schonen. Das zweitgrößte, auf g gestimmte Instrument im Turm der Martinskirche stammt nämlich aus dem Jahr 1500 und hat bisher als Betglocke täglich mehrfach geläutet. Schon vor Jahren hatte ein Sachverständiger der evangelischen Landeskirche angeregt, die alte Betglocke vom täglichen Solodienst zu befreien. Überdies fand er es schade, dass die größte Glocke im Turm, eben die als Totenglocke bekannte, so selten zu hören sei. Man solle sie doch als Ersatz für die im Ort auch als Marienglocke bekannte betagte Betglocke läuten lassen, so der Expertenrat.

Jahrelang lag die Empfehlung in der Schublade. Doch nach Abschluss der Kirchenrenovierung besuchte der Sachverständige Kirchentellinsfurt erneut und habe nach der Läuteordnung gefragt, erinnert sich Odenwald. „Da kam die Sache wieder in den Blick“, so der Pfarrer.

Im Kirchengemeinderat, dessen Vorsitzender Odenwald als Pfarrer ist, wurde die neue Läuteordnung durchgewunken. „Für mich ist das ein Randthema“, zeigt der stellvertretende Vorsitzende Klaus-Dieter Kriegeskorte wenig Verständnis für die Aufregung. Er habe sich da von „praktischen Erwägungen leiten lassen“. Man müsse „auch mal etwas ändern“. Bei ihm direkt habe sich noch niemand beschwert.

Beim Pfarrer indes kamen schon Klagen an. Die Leute, so Odenwald, störten sich daran, „dass man jetzt den ganzen Tag an den Tod erinnert wird und schon morgens mit dem Gedanken an den Tod aufwacht“. Das hat den Seelsorger überrascht. „Ich habe gar nicht damit gerechnet, dass jemand das so unterscheiden kann, welche Glocke da jetzt läutet“, sagt er und räumt ein: „Ich bin da ein bisschen blauäugig drangegangen.“

Er will nun noch einmal mit dem Sachverständigen der Landeskirche Kontakt aufnehmen wegen des Glockentauschs in Kirchentellinsfurt. „So wie es ist, muss es nicht unbedingt bleiben“, deutet Odenwald eine mögliche erneute Änderung der Läuteordnung an. Schließlich gibt es im Turm der Martinskirche insgesamt vier Glocken. So müsste es ja nicht unbedingt die Totenglocke sein, die als Ersatz für die gotische Glocke täglich mehrfach zum Gebet aufruft.

Bis die Sache geklärt ist, bleibt es im übrigen auch dabei, dass der Tausch zwischen der Totenglocke und der Betglocke nicht ganz vollzogen wird. Vorgesehen ist nämlich eigentlich, dass die uralte Kirchentellinsfurter Glocke, die aus dem Jahr 1500, künftig davon kündet, dass wieder einem Kirchentellinsfurter die letzte Stunde geschlagen hat. Das aber scheiterte bisher an der modernen Technologie. Denn wenn ein Leichnam zurück in den Ort überführt wird, löst der Fahrer des Leichenwagens bei Erreichen der Ortsgrenze per Funk das Totengeläut aus. Dieses Funksignal umzuprogrammieren, sei „nicht so einfach“, sagt Michael Odenwald. Bevor er nun einen Handwerker beauftragt, will der Pfarrer „erst mal abwarten, was der Sachverständige sagt“.

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Erstellt:
13.08.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 18sec
zuletzt aktualisiert: 13.08.2016, 01:00 Uhr

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