Wahlversprechen

Wer soll das bezahlen?

Ideen für höhere Ausgaben des Staates haben im Wahlkampf Hochkonjunktur. Die Finanzierung wird sträflich vernachlässigt. Schnell zeigt sich: Sie ist auch sehr schwierig.

23.09.2021

Von DIETER KELLER

Auf dem Plakat lässt sich die Zukunft leicht beschreiben. Wenn es an die Finanzierung geht, wird die Welt komplizierter. Foto: Arne Dedert/dpa

Auf dem Plakat lässt sich die Zukunft leicht beschreiben. Wenn es an die Finanzierung geht, wird die Welt komplizierter. Foto: Arne Dedert/dpa

Hartz IV muss schnell erhöht werden – da waren sich die Kanzlerkandidaten von SPD und Grünen, Olaf Scholz und Annalena Baerbock, im letzten Triell einig. Ihr Unions-Kontrahent Armin Laschet dagegen verspricht Steuerentlastungen, recht konkret in einem Sofortprogramm. Doch was das alles kostet und wie sie ihre Versprechen finanzieren wollen, blieb im Vagen oder wurde überhaupt nicht diskutiert. Wird da viel versprochen, was nicht zu halten ist?

Was kosten die Wahlversprechen? Die Abschaffung der EEG-Umlage für Ökostrom würde den Bund etwa 19 Milliarden Euro zusätzlich kosten – pro Jahr, hat das unternehmernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) ausgerechnet. Besonders teuer würde das Versprechen, die Sozialbeiträge bei 40 Prozent zu deckeln: Dann müsste der Bund bei Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung einen schnell wachsenden Betrag zuschießen, 2025 fast 46 Milliarden Euro, Tendenz weiter rasch steigend. Die Erhöhung der Mütterrente, auf der die CSU besteht, schlägt mit 4,1 Milliarden Euro im Jahr zu Buche. Die Abschaffung des Solidaritätszuschlags, die Union und FDP in Aussicht stellen, brächte dem Bund ein Einnahmeloch von fast acht Milliarden Euro. Rechnet man alles zusammen, kommt das IW – einschließlich steigender Verteidigungsausgaben – bereits im nächsten Jahr auf fast 37 Milliarden Euro, die der Bund zusätzlich verkraften müsste. 2025 wären es fast dreimal so viel.

Wie viel Luft ist im Bundeshaushalt? Der ist heute schon auf Kante genäht, betonen Olaf Scholz (SPD) als Finanzminister und sein Staatssekretär Werner Gatzer (SPD), der den Haushalt seit Jahren zusammenstrickt.

Kann der Bund nicht mehr Schulden machen? Das verbietet die Schuldenbremse im Grundgesetz. 2022 soll der Bundestag nach dem Haushaltsentwurf zum dritten Mal in Folge eine Ausnahme wegen der Kosten der Pandemie beschließen. Fast 100 Milliarden Euro neue Schulden sind vorgesehen. Doch ab 2023 soll die Bremse wieder greifen. Danach darf der Bund nur in geringem Ausmaß zusätzliche Kredite aufnehmen, und diese Möglichkeiten hat Gatzer in seinem Haushaltsentwurf schon komplett eingeplant. Zudem will er eine für die Flüchtlings-Kosten vorgesehene Rücklage von 48,2 Milliarden Euro auflösen. Trotzdem klafft im Jahr 2025 ein Loch von über sechs Milliarden Euro. Zwar gibt es immer wieder Forderungen, die Schuldenbremse abzuschaffen oder zu modifizieren. Aber für die Änderung des Grundgesetzes wäre eine Zweidrittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat nötig.

Wie viel bringen Steuererhöhungen? Die Pläne der SPD würden 14 Milliarden Euro zusätzlich bringen, die der Grünen 18,1 Milliarden Euro und die der Linken 36,8 Milliarden Euro, haben Wissenschaftler des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim ausgerechnet. Die Reformvorschläge der Union würden den Staatshaushalt mit 32,6 Milliarden Euro im Jahr belasten, die der FDP sogar mit 87,6 Milliarden Euro.

Gibt es keine anderen Auswege? Der Bund könnte sparen. Doch schon heute entfällt mehr als die Hälfte seiner Ausgaben aufs Soziale, Tendenz steigend. Eigentlich müsste er dringend mehr investieren. Dafür haben IW-Chef Michael Hüther und das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) ein Investitionsprogramm von 450 Milliarden Euro vorgeschlagen, verteilt über zehn Jahre. Wird es als Investitionsfonds konstruiert, könnten die Kredite an der Schuldenbremse vorbei aufgenommen werden. Noch sind die Parteien nicht darauf eingegangen. Etwas Luft könnte ein anderer Umgang mit den Schulden für die Corona-Maßnahmen bringen. Beschlossen ist, dass der Bund 2023 mit der Tilgung beginnt und die Kredite schnell zurückzahlt. Er könnte dem Beispiel von NRW folgen, das sich länger Zeit lässt.

Was tun? Es reiche nicht, nur auf mehr Wachstum zu setzen oder die Gutverdienenden stärker zu belasten, mahnte der Ex-Wirtschaftsweise Bert Rürup. „Gesucht ist ein Mix aus moderaten Leistungsrücknahmen im Sozialsystem, einem möglichst aufkommensneutralen und wachstumsorientierten Umbau des Steuersystems, einem Abbau von Subventionen, dem Lockern von bestehenden Beschäftigungsbremsen sowie einer Reform der Schuldenbremse.“ Im Wahlkampf war wenig davon die Rede.

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Erstellt:
23.09.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 58sec
zuletzt aktualisiert: 23.09.2021, 06:00 Uhr

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