Tübingen · Vor der Premiere

Wenn aus Liebe maßloser Zorn wird

Auch von Covid nicht zu stoppen: Medea, ein großer Theaterklassiker, von heute an im LTT.

20.06.2020

Von ST

Ragna GuderianBild: LTT

Ragna GuderianBild: LTT

Viele Menschen befällt schon bei der Nennung ihres Namens das blanke Grauen: Medea. Vor knapp zweieinhalbtausend Jahren schrieb Euripides seine Tragödie, in der einer Frau alles genommen wird, woran sie geglaubt hat. Am heutigen Samstag – ausnahmsweise um 20.30 Uhr – ist Premiere im Großen Saal. Regisseurin Ragna Guderian sprach mit LTT-Dramaturgin Laura Guhl über den Zorn ihrer Protagonistin und Proben in Corona-Zeiten.

Im Oktober 2019 hast Du eine zweiwöchige Recherchereise in Medeas Heimat, das alte Kolchis und das heutige Georgien, gemacht. Ein spannender Vorgang.

Der Mythos von Medea und ihr gemeinsamer Raub des Goldenen Vlies mit Jason ist dort sehr präsent. Spannend fand ich, dass Medea als Frauenfigur dort sehr verehrt wird. Den Aspekt des Kindsmords gibt es dort gar nicht. Die Georgier*innen sind sehr von der Stärke und Konsequenz Medeas überzeugt – und es gibt dort tatsächlich sehr viele Frauen, die Medea heißen.

Nachdem Jason und Medea nach langer Irrfahrt mit den gemeinsamen Kindern Asyl in Korinth bekommen, verlässt Jason seine Frau für die Königstochter Kreusa. Medea und den Kindern droht Verbannung. Ist unter diesen Vorzeichen Medeas Tat und ihre Motive verstehbar?

Nein, ich verstehe den Kindsmord nicht. Das ist eine außergewöhnlich grausame und deswegen sicherlich auch über Jahrtausende hinweg faszinierende Tat. Uns hat während der Probenzeit sehr die Tatsache beschäftigt, dass Medea oft sagt: „Ich kann nicht anders.“ Sie beschreibt eine Zwangsläufigkeit in ihren Handlungen, die zu diesem Mord führt. Und das ist nicht nur das Drama der verlassenen Frau. Nicht jede Frau, die verlassen wird, bringt ihre Kinder um. Entweder man hat eine entsprechende psychische Disposition oder – und daran arbeite ich mich in diesen letzten Tagen ab – es liegt an der besonderen Verbindung, die sie mit Jason hatte. Medea ist in ihrer Hingabe wie in ihren Forderungen absolut. Sie hat für Jason alles aufgegeben, ihre Heimat und ihre Familie.

Und jetzt bricht Jason nicht nur seinen Eheschwur, sondern verleugnet ihr ganzes gemeinsames Leben – was in unserer Gesellschaft in jeder zweiten Ehe passiert. Und dass einfach jemand insistiert und sagt: „Wir haben uns das versprochen und ich akzeptiere den Ausstieg nicht.“, – das kann etwas sehr berührendes haben.

Jennifer Kornprobst wird am LTT Medea spielen. Sie sind selbst Schauspielerin und Regisseurin. Was ist die besondere Herausforderung an eine Schauspielerin, der diese Aufgabe übertragen wird?

Man muss Affekte erforschen – wie Wut und Zorn. Affekte, die in unserer Gesellschaft eigentlich kaum vorkommen dürfen. Damit muss man sich auseinandersetzen. Gleichzeitig muss man schauen, dass man nicht von den Affekten überrollt wird. Man braucht Intelligenz, Emotionalität, Charisma und schauspielerische Intuition.

Für Ihre „Medea“-Inszenierung haben Sie eng mit der Puppenbauerin und -spielerin Dorothee Metz zusammengearbeitet und lassen nun zwei Puppen, ein Fabelwesen und ein kleines Mädchen, auftreten. Welche Rolle spielen diese Figuren?

Medea kommt aus dem heutigen Kaukasus und mir war es zuallererst wichtig zu erzählen, dass sie etwas Fremdes mitbringt – das auch von allen als solches wahrgenommen wird. Deswegen hat sie als Begleiter ein Fabelwesen. Die Gesellschaft, die wir zeigen, ist aber auch fremd und wurde von uns ausgegraben. Das ist nicht unsere Gesellschaft, das ist eine antike Welt, in der die Götter noch mit auf der Erde herumspaziert sind – und diesem Gedanken folgend, gibt es auch Wesen, die wie die alten Texte auf der Bühne belebt werden können.

„Medea“ wurde von der Corona-Pandemie unterbrochen, die Proben nach mehreren Wochen in veränderter Besetzung wieder aufgenommen. Konntest du während der Unterbrechung arbeiten – und hatte die Pandemie Einfluss auf die Inszenierung?

Wir mussten uns erstmal sortieren im Team – wie alle anderen auch, um mit dieser Katastrophe umzugehen. Aber wir sind schnell, nach einer Woche Unterbrechung, in Online-Proben gegangen. Wir haben mit den großen Chören, aber auch mit den anderen Schauspieler*innen an Inhalten gearbeitet. Meiner Arbeitsweise kam das eigentlich entgegen, weil ich sehr lange an Texten arbeite. Das haben wir wochenlang gemacht. Und dann kommt man ins Theater zurück – und es hat sich alles verändert. Man kann nicht mehr mit der gleichen Anzahl an Menschen auf der Probebühne sein oder in Garderoben, man sitzt mit einer Klingel auf der Probe, um Abstände einzuhalten. Man muss mit Ängsten umgehen. Aber wir versuchen, spielerisch mit den neuen Regeln zu jonglieren – ein Anbrüllen wird dann ein guter Grund, sich hinter einen Tisch zu werfen oder ein paar Schritte zur Seite zu gehen. Aber es gibt auch eine besondere Energie: Wir spielen, als gäbe es kein Morgen. Es ist gerade wie ein Tanz auf dem Vulkan.

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Erstellt:
20.06.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 25sec
zuletzt aktualisiert: 20.06.2020, 01:00 Uhr

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