Volker Rekittke macht sich Gedanken über den Kapitalismus

Wenn Beschäftigte den Job der Chefs machen

Was ist das für ein seltsamer Kapitalismus, in dem die Arbeiter den Job der Chefs machen müssen? Dass der Betriebsrat von Siemens in Kilchberg ein gut durchdachtes und durchgerechnetes „Alternativkonzept zur Beschäftigungssicherung“ (inklusive Abbau von 104 Arbeitsplätzen, für Betriebsräte eine Zumutung!) erarbeiten und nun mühsam in den Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite durchbringen muss: Das ist ein Armutszeugnis für den Weltkonzern Siemens, der 2016 rund 5,6 Milliarden Euro Gewinn nach Steuern einstrich – aber seine Getriebemotorensparte mit weltweit 7800 Beschäftigten nicht in den Griff bekommt.

05.07.2017

Von Volker Rekittke

Dabei könnte jeder erfolgreiche Tübinger Mittelständler – wie Horn, Erbe, CHT – den Manager-Kollegen bei Siemens erklären, wie man’s macht: An der – leider viele Jobs fressenden – Digitalisierung und Industrie 4.0 kommt man im (vergleichsweisen) Hochlohnland Deutschland nicht mehr vorbei. Mindestens ebenso wichtig ist eine gut ausgestattete Forschungs- und Entwicklungsabteilung sowie ein an den Kundenwünschen, auch den ausgefallenen, orientierter Vertrieb und Service.

Wie passt es zusammen, dass in Kilchberg seit geraumer Zeit Überstunden geleistet werden, die Kollegen auch samstags (freiwillig) zur Arbeit kommen, dass der Auftragseingang in diesem Jahr um 10 Prozent gestiegen ist – und dass das Werk zugleich rote Zahlen schreibt? „Wir haben die Geschäftsleitung seit Jahren auf die Situation aufmerksam gemacht und etliche Verbesserungsvorschläge gebracht. Siemens hat seine Hausaufgaben einfach nicht gemacht“, sagt der Betriebsratsvorsitzende Ismayil Arslan. Die Siemens-Manager haben versagt. Ausbaden muss es die Belegschaft. Oder werden auch Chefs entlassen? Das wär doch mal was!

Man muss nicht gleich so weit gehen wie die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, die eine andere Verfassung des Wirtschaftseigentums, deutlich höhere Erbschaftssteuern, mehr öffentliches Eigentum und Mitarbeiterbeteiligung fordert. Klar macht das Beispiel von Siemens in Kilchberg allerdings: „Gewerkschafter und Betriebsräte kennen das Innere eines Betriebes oft besser als Chefs“, so Ex-Landeswirtschaftminister Nils Schmid, der nicht gerade zum linken SPD-Flügel zählt, am Dienstag im Tübinger Rathaus.

Und OB Boris Palmer – der Grüne ist linker Umtriebe ebenso unverdächtig – korrigierte dezent seine bisherige Position zu dem Thema. Viele in Tübingen hatten ihm sträfliche Untätigkeit angesichts des drohenden Verlusts von 337 Arbeitsplätzen vorgeworfen. Palmer hatte zunächst gesagt, es handele sich um eine rein privatwirtschaftliche Entscheidung: „Es gibt keine Einflussmöglichkeit der Stadt.“ Am Dienstag indes waren solche Töne zu hören: „Ich bleibe dabei: Die Politik ist nicht der bessere Unternehmer. Aber manchmal ist der Betriebsrat der bessere Unternehmer.“