Pandemie-Lage der Nation

Weniger Infektionen, viele Tote, mehr Vakzin

Die Fallzahlen gehen nach unten, Intensivstationen sind weniger stark belastet. Experten warnen aber vor zu raschen Lockerungen.

23.01.2021

Von ELLEN HASENKAMP/HAJO ZENKER

Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts, und Christian Drosten (rechts), Chef-Virologie an der Charité Berlin, informierten über die aktuelle Lage. Foto: Michael Kappeler/dpa Pool/dpa

Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts, und Christian Drosten (rechts), Chef-Virologie an der Charité Berlin, informierten über die aktuelle Lage. Foto: Michael Kappeler/dpa Pool/dpa

Berlin. Entspannt sich die Corona-Lage? Wie soll es weitergehen? Braucht wir ein Gedenken für all die Toten? Und was macht Europa? Experten und Politiker haben sich dazu Gedanken gemacht.

Infektionszahlen Die Sieben-Tage-Inzidenz, also die Zahl der Neuinfektionen pro 100?000?Einwohner innerhalb von sieben Tagen, lag laut Lothar Wieler, dem Präsidenten des Robert-Koch-Instituts (RKI), am Freitag bei 115. Damit ist der Wert weiter gefallen – auf den niedrigsten Stand seit 1. November. Das sei „ein leicht positiver Trend“. Das Ziel der Politik lautet 50. Zudem spielt eine große Rolle, wie viele Menschen ein Erkrankter ansteckt. Die Reproduktionszahl, R-Wert genannt, liegt bei 0,93: Rein rechnerisch stecken 100 Infizierte 93 weitere Menschen an. Das RKI strebt einen R-Wert von „0,7 oder noch niedriger“ an.

Todeszahlen Bereits 50?642?Menschen sind an oder mit Corona gestorben. „Das ist eine bedrückende, für mich schier unfassbare Zahl“, sagte Wieler. Laut Statistischem Bundesamt gab es denn auch in der 52. Kalenderwoche 2020 (21. bis 27. Dezember) 24??470?Tote – 31 Prozent oder 5832 Fälle mehr als im Schnitt der Jahre 2016 bis 2019. Laut RKI wurden in dieser Woche 5040 Corona-Tote registriert. In den beiden Vorwochen lagen die Sterbezahlen jeweils um 26 Prozent höher.

Totengedenken Eine schon länger diskutierte Gedenkfeier soll nun „nach Ostern“ stattfinden, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Freitag mitteilte. Geplant ist eine „zentrale Gedenkfeier“, an der neben Steinmeier die Kanzlerin sowie Vertreter des Bundestags und der Länder teilnehmen. Das Datum könnte bedeuten, dass er hofft, dass ab April die Pandemie nachlässt. Um die Zeit zu überbrücken, rief er zur Aktion #lichtfenster auf: Die Bürger sollen ein Licht ins Fenster stellen und Bilder davon im Internet verbreiten, um zu zeigen: Die Toten „sind für uns keine bloße Statistik“.

Mutationen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verwies auf die gefährlichen Mutationen, die zuerst in England, Südafrika und Brasilien auftraten und mittlerweile alle auch in Deutschland bereits nachgewiesen wurden, zumeist im Zusammenhang mit Reisen. Deren Verbreitung müsse man bei uns so weit wie möglich verhindern. Nachdem es zunächst hieß, dass die englische Mutation um 50 bis 70 Prozent ansteckender sei, sprach der Virologe Christian Drosten am Freitag von 22 bis 35 Prozent. Da sei zwar geringer, aber nun auf gesicherter Datengrundlage. Und damit eine schlechte Nachricht, die höhere Infektiosität sei „leider ein Faktum“. Die Labore arbeiteten mit „äußerster Anstrengung daran, ein klares Datenbild“ über die Verbreitung der Mutationen in Deutschland zu gewinnen.

Impfen Laut Jens Spahn sind bisher mehr als 1,5?Millionen Impfungen vorgenommen worden, 100?000?Menschen hätten die zweite Dosis erhalten. Nach der anhaltenden Kritik über ausbleibenden Impfstoff setzt er nun auf die Zulassung von Astra Zeneca in der kommenden Woche. Das wäre das dritte Vakzin in der EU und könne bereits im Februar „einen spürbaren Unterschied“ machen, da Astra Zeneca viel vorproduziert habe. Genaue Zahlen wollte er angesichts der nicht eingehaltenen Zusagen von Biontech/Pfizer lieber nicht nennen.

Impfzertifikate Griechenland und andere beliebte Urlaubsländer hatten dafür geworben, über gegenseitig anerkannte Zertifikate Reisen für Geimpfte zu erleichtern. Das stieß auf Vorbehalte, weil noch nicht gesichert ist, ob Geimpfte das Virus nicht doch weiterverbreiten könnten. „Wir sind hier sehr vorsichtig“, versicherte Ratspräsident Charles Michel. Vereinbart wurde, an einem gemeinsamen EU-Corona-Impfpass zu arbeiten – die Diskussion über Vorteile für Geimpfte aber erst später zu führen.

Intensivbetten Laut Gernot Marx, Präsident der Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, gibt es „einen deutlichen Trend nach unten“. Am Freitag waren 4768 Covid-Patienten intensivmedizinisch zu versorgen, davon mussten 2692 künstlich beatmet werden. Am 3. Januar waren es als höchster Wert 5762 (beatmet 3171) gewesen. Auf Dauer seien aber auch die derzeitigen Behandlungen nicht durchzuhalten. Covid-Fälle lägen besonders lange, im Schnitt 25 Tage, auf Station. „Und wir haben ja auch noch viele andere Notfälle zu behandeln.“

Öffnung Einig waren sich Gernot Marx und Christian Drosten in ihrer Warnung vor einer schnellen Rücknahme der Corona-Maßnahmen. Marx verwies auf Großbritannien und Irland, wo rasche Lockerungen zu einem drastischen Anstieg der Fallzahlen geführt hätten. Drosten verwies darauf, dass ein riesiger Lockerungsdruck entstehen könne, wenn die Risikogruppen erst einmal durch die Impfung abgeschirmt seien. Die Folge könne sein, dass sich dann sehr viele Menschen infizierten, schlimmstenfalls 100?000 pro Tag. Drosten räumte aber ein, es handele sich dabei „nicht um eine Berechnung, sondern um ein mögliches Szenario“, in das Deutschland bei zu rascher Öffnung „hineinlaufen kann“.

Grenzschließungen Die wollen die EU-Staats- und Regierungschefs eigentlich unbedingt verhindern. Allen hat sich der Schaden durch die Lkw-Staus im Frühjahr tief eingebrannt. Andererseits sollen „Gesundheitskontrollen“ an den Grenzen verstärkt werden; Reisende müssen sich also auf weitere Komplikationen einstellen. Frankreich führte bereits am Freitagabend eine Regelung ein, wonach bei der Einreise negative PCR-Tests verlangt werden. Die EU-Kommission soll am Montag einen Vorschlag unterbreiten, wie nicht unbedingt notwendige Reisen eingeschränkt werden können, ohne dem Binnenmarkt zu schaden. Die grüne Europaexpertin Franziska Brantner warnte vor „de facto Grenzschließungen“ durch flächendeckende Grenzkontrollen.