Drama

„Was der Film zeigt, ist Alltag“

Das Mädchen in „Systemsprenger“ neigt zu Gewaltausbrüchen. Ist die Geschichte realistisch? Fragen an den Kinderpsychiater Steffen Pickel-Glasauer.

09.12.2019

Von DOMINIK GUGGEMOS

Vielleicht gibt es ja noch einen Oscar? Beim Europäischen Filmpreis ging Helena Zengel („Systemsprenger“) leer aus. Foto: dpa

Vielleicht gibt es ja noch einen Oscar? Beim Europäischen Filmpreis ging Helena Zengel („Systemsprenger“) leer aus. Foto: dpa

Ulm. Beim Europäischen Filmpreis war das Drama „Systemsprenger“ der Regisseurin Nora Fingscheidt gleich zweimal nominiert. Die elfjährige Helena Zengel spielt darin ein Mädchen, das zu heftigen Gewaltausbrüchen neigt. In Berlin reichte es am Samstag zwar nicht für den besten Film und die beste Hauptdarstellerin. „Systemsprenger“ erhielt jedoch eine Auszeichnung für die Musik. Und: Der Streifen wird für Deutschland ins Rennen um den Auslands-Oscar gehen. Das Thema des Dramas ist hochaktuell: „Systemsprenger“ sind verhaltensauffällige Kinder, die sich nicht ins Hilfesystem integrieren lassen. Sie werden häufig und schnell aggressiv, wechseln oft Pflegefamilien und Heime. Die Darstellung im Film sei übertrieben, allzu plakativ, bemängeln manche Kritiker. Andere halten ihn für sehr realistisch. Fragen an den Ulmer Kinderpsychiater Dr. Steffen Pickel-Glasauer.

Wie hat Ihnen der Film gefallen, Herr Pickel-Glasauer?

Pickel-Glasauer: Sehr gut. Für mich eine der besten deutschen Filmproduktionen seit langem.

Sie kennen so genannte Systemsprenger aus der Praxis. Wie realistisch ist der Film?

Sehr realistisch. Die Regisseurin Nora Fingscheidt hat wirklich enorm gut recherchiert. Was der Film zeigt, ist Alltag. Helena Zengel als Benni zeigt eine hervorragende schauspielerische Leistung. Ich hätte nach dem Film Wetten abgeschlossen, dass sie wirklich eine Systemsprengerin ist.

Und Sie haben den Vergleich. Wie häufig ist ein Kind wie Benni bei Ihnen in Behandlung?

Im Moment habe ich etwa 15 solcher Fälle in meiner Praxis. Pro Jahr kommen zwischen ein und zwei neu hinzu.

Wie messen Sie in der Behandlung von solchen Patienten Erfolg?

Benni hat im Film das Gefühl: Keiner will mich. Und Jugendliche testen das dann auch aus. Hältst du mich aus oder bist du genauso wie die Anderen? Erfolg ist dann da, wenn eine Institution, sei es die Familie, eine Pflegefamilie oder eine Jugendhilfeeinrichtung, dieses Kind aushält.

Die Regisseurin macht dem Hilfesystem bewusst keinen Vorwurf.

Das System kommt im Film aus meiner Sicht zu gut weg. Eine Jugendamt-Mitarbeiterin wie Frau Bafané im Film wünsche ich mir auch jeden Tag. In dieser Hinsicht ist der Alltag anders, es geht viel ruppiger zu. Das geht natürlich auch von den Eltern aus, weil sie überfordert sind. Und ein Jugendamt-Mitarbeiter erlebt das fünfmal am Tag.

Sie arbeiten mit drei Jugendämtern zusammen: Ulm, Neu-Ulm und dem Alb-Donau-Kreis. Wie sehen deren Konzepte aus?

Sie haben keine. Das liegt nicht an einzelnen Mitarbeitern – die stoßen aufgrund spezifischer Strukturen in den Ämtern an ihre Grenzen. Häufig ist es eine Finanzierungsfrage. Teurere Hilfen werden sehr gedeckelt.

Dabei wäre das eine Investition in die Zukunft ...

Richtig. Egal ob das hilfsbedürftige Kind später straffällig und eingesperrt wird oder einmal selbst Kinder hat und dabei die eigenen Verhaltensweisen weitergibt, es wird immer deutlich teurer. Das Geld ist am besten investiert, wenn die Kinder klein sind. Bei uns ist es eher umgekehrt.

Warum ist das so?

Das ist auch ein bisschen von der Politik vorgegeben. Die Familie soll autonom sein. Wir wollen als Gesellschaft wenig in eine Familie hineingreifen. Ist auch richtig so. Das bedeutet aber auch, dass das Hilfesystem erst spät reinkommt. Familien werden erst viel zu spät gut betreut.

Gibt es Beispiele, wie es besser geht?

Als ich in Ellwangen gearbeitet habe, hatte ich einen Systemsprenger aus dem Raum Göppingen. Da hat das Jugendamt mit uns gemeinsam ein super Konzept ausgearbeitet.

Und Vorzeigeprojekte in der Region?

Ich betreue das Konradihaus in Schelklingen. Da sind auch immer wieder Systemsprenger. Die hatten bisher ein sehr gutes Konzept, leider hat sich jetzt die Leitung geändert. Wenn das Jugendamt bereit war, Extra-Leistungen und -Betreuung mitzutragen, gab es gute Entwicklungen der Kinder. Sie kamen zum Schulabschluss oder haben eine Ausbildung gemacht.

Die Regisseurin Nora Fingscheidt sagte in einem Interview, dass Kinderheime und -Psychiatrie gesellschaftlich immer noch Tabuthemen seien, über die man nicht redet. Stimmt das?

Das ist absolut so. Insgesamt gibt es schon noch das Stigma: Mein Kind hat das nicht zu haben. Es gibt aber die Tendenz, dass es besser wird. Ich bin erstaunt, dass eher sozial Schwache den Weg zu uns finden. Der Mittelbauch tut sich da schwerer.

Dr. Steffen Pickel-Glasauer, 58, findet den Film sehr realistisch. Foto: privat

Dr. Steffen Pickel-Glasauer, 58, findet den Film sehr realistisch. Foto: privat

Zum Artikel

Erstellt:
09.12.2019, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 05sec
zuletzt aktualisiert: 09.12.2019, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter los geht's
Nachtleben, Studium und Ausbildung, Mental Health: Was für dich dabei? Willst du über News und Interessantes für junge Menschen aus der Region auf dem Laufenden bleiben? Dann bestelle unseren Newsletter los geht's!