Warum die Bäume fallen

Ist die Tübinger Forstwirtschaft noch nachhaltig?

Ist die Tübinger Forstwirtschaft noch nachhaltig? Die Kritik am aktuellen Holzeinschlag geht an die Wurzeln. Wir fragten nach.

19.02.2019

Von Mario Beißwenger

Wenn Jürgen Lücke mit seinem Hund Polly im Wald bei Waldhäuser Ost unterwegs ist, kann er nicht nachvollziehen, warum dort so viele Bäume umgesägt werden. Die Frage beschäftigt gerade nicht nur ihn. Bild: Mario Beißwenger

Wenn Jürgen Lücke mit seinem Hund Polly im Wald bei Waldhäuser Ost unterwegs ist, kann er nicht nachvollziehen, warum dort so viele Bäume umgesägt werden. Die Frage beschäftigt gerade nicht nur ihn. Bild: Mario Beißwenger

Der Holzeinschlag im Tübinger Stadtwald ist in der Kritik. Dieses Jahr sind Waldflächen dran, auf denen viele Spaziergänger unterwegs sind. Die stellen die Holzentnahme grundsätzlich infrage. Mit einem von ihnen, Jürgen Lücke, ging das TAGBLATT im Wald beim Sand und Waldhäuser Ost spazieren und notierte seine Fragen. Anschließend legten wir sie dem zuständigen Stadtförster Thomas Englisch vor.

Wieso gibt es keine Naturverjüngung der Eichen? Junge oder mittlere Eichen seien nicht zu finden, die alten würden die letzten Jahre über alle umgesägt. „Eichen brauchen anfangs besondere Pflege“, sagt Lücke.

Stimmt, sagt Englisch zu der letzten Einschätzung: „Die brauchen ganz viel Licht.“ Wenn die reichlichen Eicheln und Bucheckern dieses Jahr auskeimen, gewinnen rasch die Buchen. Die Eichen werden „ausgedunkelt“.

Wollte Englisch die Eichen am Sand über Naturverjüngung nachwachsen lassen, müsste er radikal eingreifen. Das hält er nicht für sinnvoll. Der Abhang zum Goldersbach hin sei ein guter Buchenstandort. Die Alteichen am Sand dürfen noch alt werden, junge Eichen fördert er dafür im Hägnach zwischen Lustnau und Pfrondorf. Eichen würden nicht aus dem Stadtwald verschwinden. Nach jüngster Forstinventur gibt es rund 110000 Festmeter davon. Jährlich lässt er 100 bis 200 davon einschlagen.

Angriffsflächen für Windwurf seien das Ergebnis des Einschlags. „Wenn da der Wind reinpackt, bleibt nichts mehr stehen“, befürchtet Lücke.

Das treffe zu, sagt Englisch. Nach jedem Hieb sei ein Wald zwei, drei Jahre anfälliger für Windwurf. In einem Nadelwald wäre das Vorgehen wie bei WHO deshalb nicht ratsam. Die dortigen Laubbäume hält Englisch aber für gut gegründet, das Risiko sei gering. Vorausgesetzt, es kommt kein gewaltiger Orkan.

Der parkartig lichte Wald nach dem Hieb beschäftigt Lücke. „Das ist jetzt doch mehr eine Parklandschaft“, stellt er fest. Werde da nicht die Waldflora nachteilig verändert? „Da haben die Schattenpflanzen jetzt Probleme.“

Die letzten 20, 30 Jahre mit – für den Forst – „naturnahem Waldbau“ hätten zu relativ dunklen Wäldern geführt, erklärt der Stadtförster dazu. „Lichtliebende Pflanzen wurden aus den Wäldern verdrängt.“ Wenn es jetzt mal etwas mehr Licht gebe, bedeute das nicht das flächendeckende Aus für Schattenpflanzen. Von Vertretern des Naturschutzes bekomme er sogar immer wieder zu hören, wenigstens flächenweise stark aufzulichten. „Wir versuchen das sowohl als auch umzusetzen.“

Am Sand komme hinzu, dass gerade alle Eschen umgesägt werden. Weil die wegen des Eschentriebsterbens umsturzgefährdet sind, wurde mit dem Sägen schon vor dem Nikolauslauf begonnen. Der normale Holzeinschlag kommt dazu. Das schaffe jetzt den fast schon parkartigen Eindruck. Dieser Eindruck werde auf den Flächen mit großen hallenartigen Buchenbeständen von Waldbesuchern sehr geschätzt.

Die CO2-Speicherfähigkeit gehe verloren, wenn so viel Holz entnommen wird.

„Wenn langfristige Produkte hergestellt werden, ist das CO2 in den Produkten gespeichert“, hält Englisch dagegen. Außerdem fehlten die Bäume nicht auf Dauer. „Sie wachsen ja nach“ und bänden dabei erneut Kohlendioxid. Was oft vergessen werde: „Wenn ein Baum auf natürliche Weise im Wald verrottet, wird dabei auch CO2 freigesetzt.“

Um die richtige Art der Waldwirtschaft drehen sich mehrere Fragen. Ob es das Ziel des Stadtforstes sei, möglichst viel Geld aus dem Wald zu holen? Lücke fragt nach einer Wald-Strategie. Für ihn ist keine erkennbar: „Es ist nicht nachvollziehbar, was man dem Wald entzieht.“ Und dann noch: „Lohnt sich das überhaupt?“

„Waldwirtschaft sollte Geld verdienen“, meint Englisch. „Wir sind aber keine Profitmaximierer.“ Die meisten Holzsortimente werfen einen Reinertrag ab, das wenige Wertholz bringe richtig Geld, kostendeckend seien die Massensortimente etwa für Zellstoff. Er ringe oft mit Vertretern des Naturschutzes um einzelne Bäume, die ökologisch besonders wertvoll sind, aber Jogging- und Wanderstrecken gefährden. Alt- und Totholz stehe deshalb im Stadtwald mehr in abseits gelegenen Wäldern.

Der Waldanteil ohne Nutzung richtet sich nach den Empfehlungen des Zertifizierers FSC. Der schreibe fünf Prozent plus X vor. Ausführlich nachlesen ließen sich die vom Tübinger Gemeinderat festgelegten Richtlinien auf der Homepage der Stadtverwaltung.

Massiv geerntet werde bei WHO seit Jahren, sagt Lücke. Dass dies viel zu viel ist, sei daran zu erkennen, dass viele Polder im Wald vergammeln.

Englisch kann erklären, warum Stämme oft länger am Weg liegen bleiben. Auf WHO gebe es die Sondersituation, dass eine nicht mehr existente Firma ihren Einkauf nicht abgeholt hatte. Ein Maschinenring wird das Material nun zu Hackschnitzeln verarbeiten. Grundsätzlich seien die Käufer selbst fürs Abholen verantwortlich. Die Zellstoffindustrie lasse sich oft am längsten Zeit, weil sie in großen Mengen kauft und den Rohstoff Zug um Zug holt.

Die zentrale Frage nach der Nachhaltigkeit bewegt Jürgen Lücke. Er kann sie bei dieser Art des Holzeinschlags nicht erkennen: „Ich habe nicht den Eindruck, dass das nachhaltig ist.“

Englisch hat dazu eine aktuelle Zahl. Nach Erfassung durch einen externen Gutachter, was alle zehn Jahre vorgeschrieben ist, stehen im Tübinger Stadtwald 377 Festmeter auf dem Hektar. 2006 waren es 362. „Und das, obwohl Holz genutzt wurde“, betont Englisch. Er kann den Ärger von Spaziergängern und Waldfreunden verstehen: „Wenn der Lieblingsbaum fehlt, ist das katastrophal für das persönliche Wohlbefinden.“ Der Förster kennt das. Als er vor 30 Jahren anfing, stand er mit dem Vorgänger vor zwei gewaltigen Eschen und hatte sich vorgenommen, die auch dem Nachfolger anzuvertrauen. Jetzt muss er sie doch umsägen, weil das Eschentriebsterben zugeschlagen hat.

Vielleicht rühre die Kritik ja daher, dass das Bewusstsein für die Holznutzung sehr weit weg ist und der Wunsch nach purer Waldidylle sehr nah. Vielleicht sei der Begriff Nachhaltigkeit, den ja ursprünglich die deutsche Forstwirtschaft prägte, aber auch verwässert. Nachhaltigkeit sei aber seit 300 Jahren der Kernbegriff forstlichen Handelns. Doch sie beschreibe etwas Dynamisches. „Viele setzen Nachhaltigkeit mit einem festen Zustand gleich. Es ist aber ein ständiges Handeln.“ Für ihn ist der aktuelle Holzeinschlag im besten Sinne nachhaltig. „Das lässt sich durch Zahlen prüfen.“

Doch Jürgen Lücke bleibt bei seiner Einschätzung. Die Zahlen könne er nicht richtig einschätzen, und er hat einen anderen Begriff von Nachhaltigkeit: „Für mich ist das nicht nachhaltig, wenn sich der Wald so stark verändert.“