Kriminalität · Interview

Warum Frauen selten töten

Mord und Totschlag werden meist von Männern verübt. Eine Kriminologin erklärt, wann Frauen zu Täterinnen werden.

06.05.2021

Von MIRIAM PLAPPERT

Im März 2020 veröffentlichte die Kriminologin Fredericke Leuschner eine Forschungsarbeit zum Thema „Täterinnen“. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ) in Wiesbaden  der zentralen Forschungseinrichtung des Bundes und der Länder für kriminologische Forschungsfragen. Foto: KrimZ Wiesbaden

Im März 2020 veröffentlichte die Kriminologin Fredericke Leuschner eine Forschungsarbeit zum Thema „Täterinnen“. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ) in Wiesbaden der zentralen Forschungseinrichtung des Bundes und der Länder für kriminologische Forschungsfragen. Foto: KrimZ Wiesbaden

Wiesbaden. In Oberstadion bei Ulm soll eine Frau ihre Kinder getötet haben. In Potsdam wird eine Betreuerin zur mutmaßlichen Täterin. Mord und Totschlag durch Frauen sind extrem selten. Die Kriminologin Fredericke Leuschner spricht darüber, wann Frauen töten.

Warum sind viele Menschen so schockiert, wenn Frauen zu Täterinnen werden?

Fredericke Leuschner: Es ist interessant, dass Sie sagen, dass die Leute schockiert sind. Die Frage, die sich die kriminologische Forschung eher stellt, ist, warum Frauen so selten und nicht öfter zu Täterinnen werden. Aber es stimmt natürlich: In der Gesellschaft kommt immer die Frage auf, wie konnte eine Frau das machen? Ich glaube, das passt einfach nicht in die alten Rollenbilder, in denen der Mann der Aggressor ist, der die Handlungsmacht besitzt. Verstöße von Frauen gegen bestehende Normen, insbesondere gegen Rechtsnormen, sind untypisch und selten. Die Überraschung kommt mit der Seltenheit.

Wie hoch ist der Anteil an Frauen, die Straftaten begehen?

Über die Zeit hinweg zeigt sich, dass im Hellfeld, also Delikte, die den Strafverfolgungsbehörden bekannt sind, etwa ein Viertel aller Straftaten von Frauen begangen wird. Tötungsdelikte sind extrem selten und mit 0,1 Prozent aller durch Frauen begangenen Delikte die absolute Ausnahme.

Wie erklären Sie sich den Unterschied in der Delikthäufigkeit zwischen Männern und Frauen?

Eine wirkliche Erklärung gibt es dazu bis heute nicht. Es gibt verschiedene Annahmen aus der Soziologie und der Biologie. Wahrscheinlich spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Bei Körperverletzungsdelikten durch junge Männer spielt Testosteron vermutlich eine gewisse Rolle. Sicherlich sind auch die Rollen, die Mann und Frau in der Gesellschaft übernehmen, entscheidend. Aber auch die Tatgelegenheit ist relevant.

Gibt es bestimmte Gelegenheiten, bei denen Frauen eher töten als Männer?

Frauen begehen häufig Taten im häuslichen Bereich, weil sie hier mehr Gelegenheit dazu haben. Bei Frauen finden Tötungsdelikte üblicherweise im Familienkreis satt. Einen großen Anteil machen die Kindstötung, aber auch die Tötung des Partners aus. Das sind die, ich sag mal, frauentypischen Tötungsdelikte, wobei hier nicht zu vergessen ist, dass Tötungen der Intimpartnerin durch Männer dennoch häufiger geschehen.

Gibt es Gemeinsamkeiten bei Frauen, die ihre Kinder töten?

Früher hieß es immer, es seien besonders junge Frauen, die überfordert sind und die Schwangerschaft nicht wahrhaben wollen, weshalb sie das Kind direkt nach der Geburt töten. Es hat sich aber gezeigt, dass das nicht unbedingt etwas mit dem Alter zu tun hat. Vielmehr sind wirklich tiefgreifende psychische Verarbeitungsprozesse im Spiel. Die Frauen fangen an, die Schwangerschaft komplett zu verleugnen. Die Tötung ist dann einfach nur der Höhepunkt der Verleugnungsgeschichte. Das sind relativ häufige weibliche Taten. Bei der Tötung von älteren Kindern spielen auch psychische Auffälligkeiten wie Psychosen oder Depressionen eine Rolle. Die Mutter hat das Gefühl, sie schafft es nicht, und glaubt, dem Kind nicht gerecht werden zu können. Sie will sozusagen das Beste für das Kind und erlöst es von dem subjektiv wahrgenommenen Leid.

Und wie verhält es sich mit Tötungsdelikten in der Pflege?

In unserer Gesellschaft pflegen zum größten Teil Frauen die Angehörigen. Männer tun das viel seltener. Regelmäßig erleben die Täterinnen eine Überlastung. Die Pflegebeziehung bestimmt ihr Leben, wovon sie sich lösen wollen. Bestimmte Krankheitsbilder machen die Pflegesituation noch schwieriger. Ich denke da zum Beispiel an Demenz-Erkrankungen, wo nicht selten eine gewisse Aggression von der gepflegten Person ausgeht. Wenn sich die Frauen keine Hilfe von außen suchen, können diese Schwierigkeiten in einer Tötung enden.

Gilt das auch für Berufspflegerinnen?

Es ist ein ähnlicher Mechanismus. Nur müssten da ganz andere Schutzfaktoren vorher greifen. Auch hier ist der Anteil von Frauen, die zu Täterinnen werden, relativ hoch, was auch daran liegt, dass Pflegepersonal überwiegend weiblich ist. Ich glaube, es wurde im Rahmen von Corona wirklich häufig darauf hingewiesen; so wirklich geändert hat sich aber trotzdem nichts: Es ist ein wahnsinnig ressourcenzehrender Beruf mit Schichtarbeit und Personalmangel, der richtig an die Nerven gehen kann. Da müsste natürlich von den Arbeitgebern eingegriffen werden. Je schwieriger die Situation für die Täterinnen ist, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Übergriff passiert.

Spielen denn psychische Erkrankungen bei Tötungsdelikten durch Frauen eine größere Rolle als bei Männern?

Wenn eine Frau eine Tat begeht, die dann auch noch total rollenuntypisch ist, wie die Tötung eines Kindes oder die Tötung von Angehörigen, werden die Gründe immer wieder in der Abnormität gesucht, um nicht die wirklichen Ursachen finden zu müssen. Kriminologen diskutieren auch, ob das vor Gericht eine Rolle spielt: ob ein Richter oder Staatsanwalt bei Frauen eher als bei Männern auf die Idee kommt, einen Gutachter einzuschalten und die Schuldfähigkeit prüfen zu lassen. In Deutschland gibt es dazu noch keine Studien. Im Ausland wird das teilweise angenommen, die Ergebnisse sind aber nicht wirklich auf deutsche Verhältnisse übertragbar.

Illustration: ©Picture Store/Shutterstock.com Foto: Illustration: ©Picture Store/Shutterstock.com

Illustration: ©Picture Store/Shutterstock.com Foto: Illustration: ©Picture Store/Shutterstock.com