Stumme Mütter, tote Väter

Walter Fries und Generose Sehr lasen ganz unterschiedliche Kindheitsbeschreibungen

Am vorletzten der sechs Rottenburger Sommerleseabende fuhren die Organisatoren am Mittwoch alles auf, was Wetter, Küche, Musik und Literatur zu bieten hat. Nur der Mond fehlte zum Glück.

26.08.2016

Von Fred Keicher

Generose Sehr las aus Jugenderinnerungen des Halbwaisen Josef Eberle. Bilder: Keicher

Generose Sehr las aus Jugenderinnerungen des Halbwaisen Josef Eberle. Bilder: Keicher

Rottenburg. „Folgen Sie uns in die Kindheit!“, hatten die Veranstalter vom Förderverein Stadtbibliothek um Renate Witte als Motto und roten Faden der Lesungen ausgewählt. Dass Kindheit nicht immer ein Idyll ist, machten die Texte dieses Abends deutlich. Walter Fries, ehemaliger Leiter der Weggentalschule, las eine bedrückende Passage von Hanns-Josef Ortheils „Die Erfindung des Lebens“. Generose Sehr trug eher heitere Jugenderinnerungen des Halbwaisen Josef Eberle aus „Aller Tage Morgen“ vor.

Es gibt ein Wort dafür: Mutismus. Im Alter von drei Jahren hört Johannes auf zu sprechen. Johannes ist die Hauptfigur in Ortheils autobiographischem Roman. Er tut es seiner stummen Mutter gleich. Die hat das Sprechen und auch das Klavierspielen aufgegeben. Alle vier Söhne sind jung im zweiten Weltkrieg gefallen. Was soll man da noch sagen? Der jüngste und nachgeborene Sohn tut es der Mutter gleich, verstummt, kämpft aber um sein Leben.

In konzentrierter Stille folgten die Zuhörer der Erzählung dessen, was sich im Schweigen abspielte, folgten der Wut und dem Hass des kleinen Johannes. Der wird von der Mutter getrennt, übt mit dem Vater Wörter, die er nicht spricht, sondern im Inneren anhäuft wie einen Schatz. Die Wiedersehensfeier mit der Mutter wird für Johannes zum Fiasko. Die Mutter spielt perfekt Klavier und heischt allen Beifall ein. „Sie macht es nur für sich!“, sagt er, aber nur für sich selber. Aber er fängt an zu sprechen. Sätze mit „Das ist …“ Mit geschlossenen Augen zählt er die Gegenstände der üppig gedeckten Tafel auf. Walter Fries trug das Kapitel so vor, als würde er jedes Wort in die Zuhörer klopfen.

Leichter und heiterer sind die Jugenderinnerungen von Josef Eberle gestimmt, der vaterlos in Rottenburg aufwuchs und sich die Welt der Sprache eroberte. „Ein Genie“, nannte ihn Generose Sehr. Einfach war die Kindheit Eberles nicht, stellte sich heraus. Die Mutter musste ackern und rackern. Da kam es schon mal vor, dass der Bischof selber ihr half den Handwagen voller Kartoffeln zu schieben.

Rottenburg vor dem Ersten Weltkrieg war eine Hochburg des Hopfenhandels. Es gab nach einem gefügelten Wort katholisches Bier von der Rottenburger Brauerei Bolz (sie existiert nicht mehr) und evangelisches von der Brauerei Schimpf in Remmingsheim. In der Rottenburger Wirtschaft „Eintracht“ gab es noch zwei Sorten mehr: warmes und kaltes. In diese Welt brach der Fortschritt ein, dessen Neuerungen Eberle in der Rückschau ironisch Revue passieren lässt: Das Automobil, das Motorrad, das Kino und das Telefon. Bescheidene Sensationen? Nein, schrieb er später: „Nicht die Sensationen waren bescheiden. Wir waren bescheiden.“

Der Liederkranz Rottenburg unter der Leitung von Irina Oswald, die an dem Abend einen Sonderapplaus einheimsen konnte, begleitete den Leseabend. Der Chor startete flott mit „Zum Tanze geht ein Mädchen“, versuchte sich an einer sehr frommen Version von Leonard Cohens „Halleluja“, die es dann als Zugabe wiederholte.

Inzwischen vertraut sind die Begleitgeräusche einer Rottenburger Sommernacht: Alle halbe Stunde das Signal des Zuges vor dem unbeschrankten Fußgänger-Bahnübergang bei der Einfahrt von Tübingen her, alle Viertelstunde der Glockenschlagschlag der Morizkirche und immer das Geschnatter der Enten vom Neckar.

Das „Bistrorant“, das für jeden der Sommerleseabende eine andere Pausenspeise zubereitet, servierte am Mittwoch Linseneintopf. Ein Besucher seufzte: „Wenn’s noch saure Rädle mit Wurst geben würde, dann wär‘ das Glück perfekt.“

Farida Bulut auf der Suche nach Stadtarchivar Peter Ehrmann.

Farida Bulut auf der Suche nach Stadtarchivar Peter Ehrmann.

Walter Fries und Generose Sehr lasen ganz unterschiedliche Kindheitsbeschreibungen

Nachwuchs auf die Nepomuk-Bühne – Die Rottenburger Sommerleseabende sind zugleich ein kleiner Talentschuppen

Der Eigentümer des Rottenburger Hauses am Nepomuk Ernst Heimes nützt die Gelegenheit, bei den Sommerleseabenden dem Publikum junge Rottenburger Talente vorzustellen. Etwa Farida Bulut. Die 20-Jährige hat diesen Sommer Abitur am Wirtschaftsgymnasium in Rottenburg gemacht und einen Preis für eine Arbeit über die Rottenburger Juden in der Nazizeit bekommen. Begeistert und dankbar winkte Bulut von der Bühne herab Stadtarchivar Peter Ehrmann zu (Bild). Der hatte sie bei der Arbeit unterstützt und ihr ein Gefühl für Genauigkeit gegeben.

Die Tochter kurdischer Eltern ist in Hechingen geboren und in Rottenburg aufgewachsen. Zu Hause wurde Kurdisch geredet, Deutsch hat sie im Kindergarten gelernt. Zur Ausgrenzung der Juden in Deutschland in den 1930er-Jahren entdeckte sie eine Parallele zur Behandlung der Kurden durch die türkische Regierung. Der jüngste Putschversuch habe die Entwicklung nur bestätigt. Die Rottenburger hätten bei der Verfolgung der Juden nicht mitgemacht, berichtete sie. Aber dagegen unternommen hätten sie auch nichts: „Sie haben selber Angst gehabt.“

„Geflügelte Worte“ sammeln Jugendliche in einem Jes-Projekt (Jugend engagiert sich), betreut wird es von Bürgermentorin Helga Kuhn. Patrick Fritz – er besucht die 12. Klasse des Technischen Gymnasiums in Tübingen – stellte beim Leseabend am vergangenen Mittwoch das Projekt vor am Beispiel von „Lampenfieber“. Erklärt werden die Geflügelten Wörter unter drei Aspekten: woher sie kommen, was sie bedeuten und wie sie auf Rottenburg bezogen werden können. Lampenfieber komme aus der Theaterwelt, bedeute das Schwitzen vor und beim Auftritt und es sei genau das, was er im Moment habe, sagte Fritz.

Sein Lieblingsausdruck, verriet Patrick Fritz, sei „nur Bahnhof verstehen“. Das stamme aus der Nationalen Volksarmee der DDR, bedeute das man nichts mehr anderes im Kopf habe als „nur weg von hier“. Was das mit Rottenburg zu tun habe? „Das liegt doch auf der Hand“, sagte Fritz und lachte. Es gibt freilich auch andere Herleitungen. fk

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Erstellt:
26.08.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 42sec
zuletzt aktualisiert: 26.08.2016, 01:00 Uhr

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