Tübingen

Vorwand

Bußgeldverfahren eingestellt – gut so! Aber die Begründung der Stadtverwaltung vernebelt deren Motiv dafür.

05.06.2020

Von Jens Rüggeberg

Entscheidend sei gewesen, „dass die Beteiligten offensichtlich auf Infektionsschutz geachtet haben und irrtümlich davon ausgingen, dass die Versammlung damit zulässig sei“. Richtig ist: Polizei und Ordnungsamt gingen irrtümlich davon aus, dass es sich bei dem Spaziergang um eine unzulässige Versammlung handele. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Mai muss der Rathausspitze klar geworden sein, dass Bußgeldbescheide vor Gericht keinen Bestand gehabt hätten.

Das Bundesverfassungsgericht entschied, die hessische Corona-Verordnung müsse verfassungskonform ausgelegt werden, was heiße, eine Versammlung müsse genehmigt werden, wenn ihr der Gesundheitsschutz nicht entgegensteht. § 3 Abs. 1 der hiesigen Corona-Verordnung dürfte allerdings verfassungswidrig sein. Denn er gestattet den „Aufenthalt im öffentlichen Raum (…) nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Haushalts“ – ohne Ausnahme für politische Versammlungen. Durch Verordnung und ohne gesetzliche Ermächtigungsgrundlage (§ 28 i.V.m. § 32 IfSG reicht nicht) darf das Grundrecht aus Art. 8 GG (Versammlungsfreiheit) nicht ausgehebelt werden. Corona darf nicht zum Vorwand für Grundrechtsverletzungen beziehungsweise -einschränkungen werden! Gegenwärtig kann nicht einmal über die aktuell geplante Verschärfung des hiesigen Polizeigesetzes auf Veranstaltungen informiert werden. (...)