Der Sinn des Puppenlebens

Von „King Kong“ bis „Anomalisa“: Wie mit Stop-Motion-Tricks Filme gedreht werden

Der Stop-Motion-Trick wurde vor 100 Jahren erfunden. Mit dem so altmodischen wie aufwendigen Effekt-Verfahren sind einige der schönsten Filmfiguren zum Leben erweckt worden. Nun im Kino: „Anomalisa“.

20.01.2016

Von MAGDI ABOUL-KHEIR

Michael und Lisa sind die Hauptfiguren von „Anomalisa“: zwei Puppen, doch es geht in dem Film um zutiefst Menschliches. Fotos: Paramount, Studiocanal, Getty Images, Concorde

Michael und Lisa sind die Hauptfiguren von „Anomalisa“: zwei Puppen, doch es geht in dem Film um zutiefst Menschliches. Fotos: Paramount, Studiocanal, Getty Images, Concorde

Michael Stone ist Autor von Selbsthilfebüchern - und selbst in der Krise. Deprimiert sitzt er in Cincinnati in einem Hotel. Im Badezimmerspiegel sieht er einen einsamen Mann. Und noch etwas ist zu sehen: Nähte, mit denen sein Gesicht befestigt ist. Denn Michael Stone ist eine Puppe, eine Trickfilmfigur. Der Film „Anomalisa“, der morgen in die Kinos kommt und von der Kritik gefeiert wird, ist mit Puppen und aufwendig aus Einzelbildaufnahmen hergestellt worden.

Eine Tragikomödie, die essentielle Fragen über die menschliche Existenz verhandelt, als Trickfilm? Autor und Regisseur Charlie Kaufman setzt diese Verfremdung und Irritation bewusst ein - und baut eben nicht auf brillante Computereffekte, sondern auf die so genannte Stop-Motion-Technik. Dabei werden Objekte animiert, indem ihre Haltung Filmbild für Filmbild immer nur minimal verändert wird: Hintereinander abgespielt, entsteht so die Illusion von Bewegung, von Gestik und Mimik. 24 Einzelaufnahmen ergeben eine Sekunde Film, ein eineinhalbstündiger Stop-Motion-Film besteht demnach aus rund 100 000 Aufnahmen.

Die Technik erfunden hat der Filmtrick-Pionier Willis H. O Brien in den 1910er Jahren, als er noch Dekorateur war. Die Idee entstand, als er mit einem Kollegen Boxer-Figuren aus Ton formte und mit ihnen scherzhaft einen Kampf ausführte. Seine zunächst kruden, ruckeligen, aber bald fließenderen Animationen mit immer detaillierteren Geschöpfen brachten ihn in der noch jungen Filmindustrie voran.

O Brien wurde Spezialist für Urzeitmonster, was in „Lost World“ (1925) und schließlich im Meisterwerk „King Kong“ (1933) gipfelte. Sein Riesenaffe war tatsächlich nur 45 cm hoch, fünf Kilo schwer und dank der Kombination mit anderen Trickverfahren - Hintergrundmalereien, per Miniaturprojektion in die Szenerie eingefügte Schauspieler - das tollste Monster der Filmgeschichte. „Er konnte Trickfiguren so gut modellieren, wie Walt Disney sie zeichnen konnte“, sagte Kong-Regisseur Merian C. Cooper.

Später verfeinerte Ray Harryhausen, ein Schüler O Briens, die Stop-Motion-Technik. Seine Spezialität waren märchenhafte und mythologische Fantasystreifen, etwa „Sindbads siebte Reise“ (1957). Wie Harryhausen Zaubervögel, Titanen, Zyklopen, Drachen und sechsarmige Statuen animierte und ihnen sogar Persönlichkeit verlieh, das hatte einen ganz eigenen Reiz. Als sein Meisterstück gilt das Finale von „Jason und die Argonauten“ (1963), in dem wackere Seefahrer gegen sieben wütende Skelette fechten.

Durch den Siegeszug des Blockbuster-Kinos seit den 70er Jahren wurde die Entwicklung neuer Tricktechniken vorangetrieben. Dennoch starb Stop Motion nicht aus. So ist der spektakuläre Angriff von Darth Vaders Kampfläufern auf dem Eisplaneten in „Das Imperium schlägt zurück“ (1980) mit Stop Motion inszeniert. Und wenn im ersten „Terminator“ (1984) Arnold Schwarzenegger abgefackelt wird und der Kampfroboter nurmehr als Metallskelett hinter Sarah Connor herjagt, ist auch das Stop Motion. Ebenso werden die beliebten Knetfiguren Wallace und Gromit per Stop Motion zum Leben erweckt. Heute wird das aufwendige Puppentrickverfahren natürlich mit Computertechnik verfeinert: So sind flüssigere Bewegungsabläufe und die Komposition mit künstlichen Bildhintergründen möglich.

Doch Genre-Fans lieben gerade die irreale Anmutung, den naiven Charme der altmodischen Technik. So hat Wes Anderson zuletzt in „Grand Budapest Hotel“ (2014) eine entzückende Stop-Motion-Sequenz eingebaut. Ohnehin könnte man sagen: Das Fremdartige, das etwa einem gigantischen Affen anhaftet, wird durch Stop Motion noch betont. Der Zuschauer glaubt ohnehin, was ihm gezeigt wird, wenn die Geschichte gut ist.

Das alles machen sich die Macher von „Anomalisa“ zu Nutzen. Selbst wenn Puppenmann Michael eine schüchterne Frau kennenlernt, die beiden sogar Sex haben, ist das nicht albern. Es geht um wahre Gefühle: um Traurigkeit, Einsamkeit, Sehnsucht nach Nähe und Liebe - ums Menschsein. Es klingt paradox, aber während die fotorealistische Illusion von Computereffekten dazu führt, dass selbst Fantastisches normal erscheint, passt die Imperfektion von Stop Motion viel mehr zur - eben nicht perfekten - Realität der menschlichen Existenz.

Als die Ehefrau von Trick-Pionier Willis H. O Brien einst „King Kong“ sah, erkannte sie in Kong ihren Mann wieder.

„King Kong“ (1933) gilt als Meisterwerk der Stop-Motion-Tricktechnik.

„King Kong“ (1933) gilt als Meisterwerk der Stop-Motion-Tricktechnik.

Ray Harryhausen (Mitte) erweckte mit dem Einzelbild-Verfahren viele fantastische Gestalten zum Leinwand-Leben

Ray Harryhausen (Mitte) erweckte mit dem Einzelbild-Verfahren viele fantastische Gestalten zum Leinwand-Leben

Auch die herzigen Knet-Figuren Wallace und Gromit werden per Stop Motion animiert.

Auch die herzigen Knet-Figuren Wallace und Gromit werden per Stop Motion animiert.

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Erstellt:
20.01.2016, 10:30 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 58sec
zuletzt aktualisiert: 20.01.2016, 10:30 Uhr

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