Gesellschaft

Vom Straßenjungen zum CEO - Hoffnung für Hanois vergessene Kinder

Zehntausende Kinder leben allein auf den Straßen Vietnams – bedroht von Pädophilen und Menschenhändlern. Doch es gibt Hilfsangebote für sie.

28.01.2023

Von Von Chris Humphrey und Carola Frentzen, dpa

Do Duy Vi, Co-Geschäftsführer der Hilfsorganisation „Blue Dragon Children‘s Foundation“, hält während einer abendlichen Suche nach obdachlosen Kindern in Hanoi einen Jungen auf dem Arm.  Foto: Chris Humphrey/dpa

Do Duy Vi, Co-Geschäftsführer der Hilfsorganisation „Blue Dragon Children‘s Foundation“, hält während einer abendlichen Suche nach obdachlosen Kindern in Hanoi einen Jungen auf dem Arm. Foto: Chris Humphrey/dpa

Hanoi. Mit seiner Smartphone-Taschenlampe leuchtet Do Duy Vi an einem kühlen Januar-Abend in eine mit Abfällen übersäte Brückenunterführung in Hanoi. In der Dunkelheit tauchen schmuddelige Bettdecken, zerfetzte Schlafsäcke und alte Matratzen auf. Es riecht nach Dreck und Urin. Dies ist das Zuhause mehrerer vietnamesischer Straßenkinder, die hier nachts Zuflucht vor den Gefahren der Hauptstadt suchen. „Sie sind gerade nicht da, aber wahrscheinlich werden sie gegen Mitternacht zurück sein“, sagt Vi. Er kennt sich aus. Der 36-Jährige lebte als Kind selbst auf den Straßen der Großstadt – bis eine Begegnung alles änderte.

Heute ist er Co-Geschäftsführer jener Organisation, die ihn einst aus der Obdachlosigkeit rettete: Es ist die von einem Australier gegründete und jetzt auch in Deutschland registrierte „Blue Dragon Children’s Foundation“. Dennoch sucht Vi weiter Nacht für Nacht all jene Orte Hanois ab, die die meisten Menschen meiden. In düsteren Winkeln, auf verlassenen Baustellen und unter Überführungen bietet er Straßenkindern behutsam Hilfe an.

Denn auf sich allein gestellte Minderjährige sind in der Metropole vielen Gefahren ausgesetzt: Nach den Erfahrungen von „Blue Dragon“ nutzen häufig Pädophile die Not hungriger und geldbedürftiger Kinder aus. Seit einigen Jahren werden auch viele in Nachbarländer wie Kambodscha verschleppt, wo sie zu kriminellen Handlungen – wie Online-Betrug – gezwungen werden.

Besonders häufig trifft Vi nahe dem Busbahnhof My Dinh auf Kinder, die Hilfe brauchen. „Sie kommen mit dem Bus vom Land hier an, in der Hoffnung, in Hanoi etwas Geld zu verdienen.“ Er selbst verließ einst mit demselben Ziel seine Heimatprovinz Nam Dinh am Delta des Roten Flusses, etwa 90 Kilometer südöstlich von Hanoi. Vi war 14 Jahre alt, seine Eltern bitterarm. Damals sah er seine einzige Chance darin, sich in der Hauptstadt Arbeit zu suchen.

„Hanoi war überwältigend für Jungs vom Land wie mich“, erzählt Vi. „Ich hatte mein Dorf davor nur selten verlassen und hatte noch nie ein Auto gesehen. Deshalb war es schon eine Herausforderung, auch nur eine Straße zu überqueren.“ Zu Beginn habe er die Freiheit und das Abenteuer genossen. „Aber dann wurde mir klar, dass das Leben auf der Straße nicht sicher ist.“ Als Obdachloser sei er verprügelt, ausgeraubt und gejagt worden. Zudem sei ein Leben auf der Straße ohne die Unterstützung von Erwachsenen oder Freunden sehr einsam gewesen. „Es war einfach zu viel. Ich hatte keine Zukunft und keine Hoffnung.“

Um zu überleben, schlug Vi sich als Schuhputzer durch. Bis zu jenem Tag, an dem alles anders wurde. Damals traf er auf Michael Brosowski, einen Lehrer aus Sydney und späteren Gründer der „Blue Dragon Children‘s Foundation“. Das war im Jahr 2002 – und Vi war nur eins von tausenden vergessenen Straßenkindern in der Hauptstadt. Der Australier ermutigte den Jungen, an einem kostenlosen Englischkurs teilzunehmen, den er sonntags für benachteiligte Kinder gab. „Mir war sofort klar, dass er sein Schicksal ändern wollte“, sagt Brosowski. „Er war ein Anführer unter den anderen Kindern und arbeitete hart daran, seine Lebenssituation zu verbessern.“

Als 2004 „Blue Dragon“ entstand und die erste Schutzunterkunft eröffnet wurde, zog er sofort ein – und wurde zu einem der ersten Schützlinge der Stiftung. Er lernte fleißig, und als er alt genug war, fand er Arbeit in einem Restaurant. 2009 wurde Vi von Blue Dragon eine Stelle als Sozialarbeiter angeboten. Nach zwölf Jahren Tätigkeit für die Organisation wurde Vi im vergangenen Jahr zum Co-CEO ernannt.

Aus den Fängen von Menschenhändlern

Heute unterstützt die seit knapp 20 Jahren bestehende Hilfsorganisation „Blue Dragon Children’s Foundation“ in ganz Vietnam rund 20 000 Kinder. Zudem hilft die Organisation, sie aus den Fängen von Menschenhändlern zu retten, die sie nach China, Kambodscha oder Myanmar schmuggeln.

Wie viele Kinder in Vietnam als Obdachlose leben, ist schwer zu beziffern. Das Ministerium für Arbeit und soziale Angelegenheiten schätzte die Zahl im Jahr 2006 bereits auf 23 000 in ganz Vietnam. dpa

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Erstellt:
28.01.2023, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 02sec
zuletzt aktualisiert: 28.01.2023, 06:00 Uhr

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