Kommentar

Vom Bildschirm in die Realität?

Ein schneeweißer Sportwagen hält an der Ampel vor dem Deutsch-Amerikanischen Institut. Auf so ein Auto hat er gewartet. Die Maschinenpistole im Hosenbund sprintet er zur vorderen Tür, zieht den Fahrer heraus.

04.12.2015

Von Lorenzo Zimmer

Mit qualmenden Reifen setzt sich der Luxusschlitten in Bewegung – aus dem Fenster ballert der Gangster auf überholte Radler. Drive-by-Shooting mitten in Tübingen.

Die Vorstellung: sehr beängstigend. Und ziemlich unwirklich. Doch in Kinder- und Jugendzimmern sind solche Szenarien zunehmend Realität. Naja, nicht Realität. Sie laufen virtuell ab – aber mit der Weiterentwicklung von Grafikchips, Soundkarten und Prozessoren wirken solche Geschehnisse aus „Grand Theft Auto“ und „Counter-Strike“ verblüffend echt. Ein erwachsener Mensch differenziert zwischen Spiel und echtem Leben, aber tun das auch Jugendliche? Verändern sich ihre Gehirne durch das Eintauchen in digitale Welten? Werden Aggressionspotenzial gesteigert und Konzentrationsvermögen gesenkt?

Thesen, die der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer vertritt. Sein neuestes Buch „Cyberkrank“ scheut sich nicht vor Pauschalurteilen: „Wissenschaftliche Studien belegen, dass bei intensiver Nutzung von Computerspielen und Online-Chats unser Gehirn abbaut. Kinder und Jugendliche sind oft kaum noch lernfähig. Die Symptome: Aufmerksamkeitsstörungen und Realitätsverlust, Stress, Depressionen und zunehmende Gewaltbereitschaft.“ Klingt furchtbar.

Und weil die heranwachsende Generation mit den Geräten selbstverständlicher umgeht als ihre Eltern, die aus einer Zeit ohne Tablets, Facebook und Handygames kommen, trifft Spitzer einen wunden Nerv: „Muss ich das meinem Kind verbieten? Wie soll ich dieser Sache Herr werden?“ Aus Unkenntnis wird Angst. Aber rigorose Verbote bewirken oft das Gegenteil.

Getreu dem Motto „Glaube keiner Studie, die du nicht selbst gefälscht hast“ finden sich im Internet zu diesem Thema viele Widersprüche. Gibt man „Computerspiele“, „aggressiv“ und „Studie“ bei Google ein, erscheint der ganzen Reigen. Sie machen aggressiv, sie machen es nicht, man weiß es nicht. Wie so oft scheint zu gelten: Die Wahrheit muss irgendwo in der Mitte liegen.

Ja, Computerspiele können süchtig machen wie vieles andere auch. Ich kann nur autobiographisch argumentieren: Einen Teil meiner jugendlichen Allgemeinbildung gewann ich beim Computerspielen. Spiele, in denen ich als Montezuma aztekische Tempelstädte erbaute, als Ordensnovize über die Dächer von Damaskus kletterte oder als General Stalin die deutschen Truppen bei Schnee und Eis abwehrte.

Und im echten Leben schnitt ich als passionierter Gamer bei Übungen zur Hand-Auge-Koordination immer besser ab als meine Altersgenossen. Das Bedürfnis, an der Neckarbrücke in einen fremden Sportwagen einzusteigen, hatte ich trotz vieler Stunden „Grand Theft Auto“ nie.