Corona

„Viele fühlen sich zu wenig gehört“

Patienten, die an „Long-Covid“ leiden, haben riesigen Beratungsbedarf, Anlaufstellen sind rar. Otto Rommel hat die erste Selbsthilfegruppe im Land gegründet. Sein Ziel ist ein landesweites Netzwerk.

13.04.2021

Von DOMINIQUE LEIBBRAND

Otto Rommel will Menschen helfen, die wie er „Long-Covid“-Probleme kennen. Foto: Dominique Leibbrand

Otto Rommel will Menschen helfen, die wie er „Long-Covid“-Probleme kennen. Foto: Dominique Leibbrand

Stuttgart/Magstadt. Als Otto Rommel Ende März 2020 an Covid-19 erkrankt, kommt er gerade von einer Weltreise zurück. Die ersten Symptome schiebt er auf den Jetlag. Doch dann geht es ihm immer schlechter. Erhöhte Temperatur, Durchfall, starker Husten. Das Virus zwingt ihn buchstäblich in die Knie. „Ich bin auf allen Vieren durch die Wohnung gekrochen“, erinnert er sich.

Der Ruheständler kommt ins Krankenhaus. Intensivstation. Im Delirium fällt er aus dem Bett, muss fixiert werden. Er ringt mit dem Tod: „Ich stand kurz vor einem Multi-Organ-Versagen.“ Die Ärzte wollen ihn ins künstliche Koma versetzen, ihn an ein Beatmungsgerät anschließen.

Rommel, der lange ehrenamtlich im Hospizdienst tätig war, weiß, was das bedeutet. Dass er von der Beatmung schwere Schäden zurückbehalten könnte. Oder vielleicht gar nicht mehr aufwacht. Er lehnt ab. Dann könnten sie nichts mehr für ihn tun, sagen die Ärzte.

„Ich hatte meinen Frieden mit dem Tod gemacht“, sagt der frühere Prokurist eines Möbelhauses heute, fast genau ein Jahr später. Der Vater zweier erwachsener Töchter, moderne Brille, schwarzer Rollkragenpulli, sitzt in seiner geschmackvoll eingerichteten Single-Wohnung in Magstadt im Kreis Böblingen am Esstisch. Vor sich eine Tasse Tee. Die Augen von Hund Byron sind fest auf ihn gerichtet. Der 67-Jährige hat wie durch ein Wunder überlebt. „Ich habe mich quasi allein aus dem Krankenhaus rausgeatmet“, sagt er mit Blick auf seine damals schlechten Sauerstoffsättigungswerte.

Die akute Infektion hat der Magstädter weggesteckt, mit den Langzeitfolgen, im Fachjargon „Long-Covid“ genannt, kämpft er jedoch bis heute. Die regelmäßigen Spazierrunden mit seinem Hund schafft er heute nicht mehr so mühelos wie früher.

Zur verminderten Leistungsfähigkeit kommen neurologische Probleme. Er verwechselt Kühlschrank und Mikrowelle. Immer wieder sucht er nach Worten. „Beim Kurzzeitgedächtnistest bin ich zu 100 Prozent durchgefallen.“ Am heftigsten aber kämpft er mit Depressionen.

Die richtige medizinische Hilfe musste sich Rommel mühsam bei verschiedenen Ärzten zusammensuchen. Sein Hausarzt sei wie viele Kollegen mit der Sache überfordert gewesen. „Fachkundige Anlaufstellen, die alle Informationen zusammenfügen, fehlen.“ Reha-Angebote seien oft nicht bekannt genug, außerdem seien sie oft einseitig, auf ein Symptom fokussiert, moniert er. „Als ich selbst in Reha war, musste ich darum kämpfen, auch mit einem Psychologen sprechen zu können. Auf meinem Überweisungsschein stand eben nur Pneumologie.“

Im Austausch mit anderen Betroffenen merkte Rommel, dass er mit dieser Problematik nicht allein ist. Anfang des Jahres gründete er deshalb in Stuttgart die erste Selbsthilfegruppe für Post-Covid-19-Patienten und Angehörige in Baden-Württemberg.

Seither ist der 67-Jährige Ansprechpartner für viele, die nicht mehr weiter wissen. Mehr als 100 Telefonate hat er in den vergangenen Wochen geführt. Auch über Facebook erreichen ihn viele Anfragen.

Zu viele für eine Selbsthilfegruppe. Neben der Stuttgarter Truppe, die sich bislang vier Mal treffen konnte und zu der etwa 15 Leute in wechselnder Besetzung gehören, hat Rommel daher viele weitere Menschen digital zusammengeführt, die sich jetzt auf die jeweiligen Städte aufgeteilt in Whatsapp-Chats austauschen können. Darunter seien Leute aus Ulm, Radolfzell oder Heilbronn. Auch in Tübingen sei gerade eine Gruppe im Aufbau.

In den Gesprächen geht es unter anderem um Ärzteempfehlungen, neueste wissenschaftliche Erkenntnisse oder die Frage, wie man einen Therapieantrag stellt. Wieder andere hätten Probleme mit dem Nachweis, dass sie sich am Arbeitsplatz angesteckt hätten, was die Voraussetzung dafür sei, dass die Berufsgenossenschaft die Kosten für die Reha übernehme, erklärt Rommel.

Um Antworten zu liefern und Wissen zu bündeln, arbeitet er daran, eine Dachorganisation in Vereinsform zu gründen. Dann könne man beispielsweise auch eine Rechtsberatung bieten. Im Verbund ließen sich Interessen zudem besser durchsetzen, etwa bei der Frage der Kostenübernahme von neuen Therapieformen.

Schließlich gehe es auch um Sichtbarkeit: „Viele fühlen sich zu wenig gehört und ernst genommen.“ Im Gegenteil, einige hätten Stigmatisierung erlebt.

Sein Engagement tut dem Ruheständler gut, lenkt ihn ab. Dass ihn die Erfahrung und die Langzeitfolgen nicht kalt lassen, merkt man daran, dass er beim Erzählen immer wieder um Fassung ringt. Gleichzeitig hat ihm seine Erkrankung etwas nochmal ganz deutlich gemacht: „Ich habe ein erfülltes Leben, mit dem ich zufrieden sein kann.“

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Erstellt:
13.04.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 07sec
zuletzt aktualisiert: 13.04.2021, 06:00 Uhr

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