Corona-Krise

Viel Gegenwind für Boris Palmers Strategiewechsel

Zusammen mit fünf Wissenschaftlern und Intellektuellen fordert der Tübinger OB spezielle Regeln für Risikogruppen. Die jetzigen Lockerungen seien zu pauschal – und damit riskant.

28.04.2020

Von Roland Müller

Fordert neue Ansätze: Boris Palmer. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Fordert neue Ansätze: Boris Palmer. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Es ist ein Muster, das Boris Palmer vertraut ist: Der Tübinger OB ist in einer aktuellen Debatte in aller Munde – aber nicht so wie von ihm intendiert. Im „Spiegel“ hat Palmer in einem mit fünf namhaften Intellektuellen verfassten Gastbeitrag einen „Strategiewechsel“ im Umgang mit dem Coronavirus gefordert. Nun seien die sechs Urheber damit beschäftigt, Fehldeutungen zu korrigieren. „Leute wie Ministerpräsident Armin Laschet sagen, wir hätten gefordert, jetzt so schnell wie möglich alles zu lockern“, sagt Palmer. Das sei völlig falsch. Schon die jetzigen Lockerungen seien zu riskant, weil sie „undifferenziert für alle“ gälten.

Kern des Appells sei, Maßnahmen danach zu differenzieren, wie gefährlich das Virus für Betroffene ist. Sprich: Statt Einschränkungen und Lockerungen für alle gleich zu verhängen, müsse man abgestuft lockern. „Menschen, die ein hohes Risiko haben, schwer zu erkranken, müssten sich dann sehr viel weiter zurücknehmen als der Rest der Bevölkerung“, sagt Palmer. Weniger Gefährdete wiederum könnten mehr Freiheiten genießen.

Das sei keine Diskriminierung älterer und kranker Menschen, sondern diene ihrem besonderen Schutz. Auch nach dem juristischen Gebot der Verhältnismäßigkeit sei ein solches Vorgehen verfassungsrechtlich zulässig – und geboten, um Eingriffe in die allgemeinen Freiheitsrechte nicht zu groß werden zu lassen. Dieser Aspekt sei in der Rezeption des Appells weitgehend untergegangen – was zum Teil auch am „Spiegel“ selbst gelegen habe, der die Online-Fassung des Textes mit „Raus aus dem Lockdown – so schnell wie möglich“ betitelte.

Ursprung des Gastbeitrags war ein Austausch zwischen Palmer und Philosoph Julian Nida-Rümelin, die sich schon länger kennen und beim Thema Corona auf einer ähnlichen Linie wiederfanden. Nachdem Palmer zudem mit dem Virologen Alexander Kekulé und dem Ökonomen Christoph Schmidt in einer SWR-Debatte auftrat, sei die Idee eines gemeinsamen Appells gewachsen. Die Autorin und Juristin Juli Zeh (sie steuerte maßgeblich den verfassungsrechtlichen Part bei) und der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Straubhaar vervollständigten die illustre Runde. Per Mail seien über drei Tage hinweg Textentwürfe ausgetauscht und überarbeitet worden, bis die finale Version stand.

Dabei habe es auch Kompromisse gegeben. So ist Palmer Anhänger einer Tracing-App, um Infektionen schnell zu verfolgen – Virologe Kekulé hingegen ist skeptisch. Als Gemeinschaftswerk prominenter Köpfe aus unterschiedlichen Bereichen sei es dennoch ein wichtiger Einwurf – auch wenn er leider einige Fehldeutungen erzeugte. So sei auch die Analogie zur Grippe „zu komplex“ und sehr anfällig für Missverständnisse gewesen.

Dass der Vorstoß auch bei korrekter Rezeption gesellschaftlichen Zündstoff birgt, ist Palmer klar: Davon zeugen allein viele Zuschriften, die er derzeit vor allem aus älteren Bevölkerungsgruppen erhält und die ihm zum Teil Nazi-Gedankengut unterstellen, weil er Ältere „einsperren“ wolle. „Da kommen Vergleiche mit KZ und Judenstern“, sagt Palmer. Wie man die absichtliche Vernichtung von Menschen vergleichen könne mit Schutzmaßnahmen für vulnerable Gruppen, sei ihm schleierhaft – zeige aber, welche Emotionen solche Debatten auslösen. In anderen Zuschriften heiße es, man sei zwar 83 Jahre alt, aber topfit. „Da wird das Risiko einfach unterschätzt.“

Um das Virus im Zaum zu halten, gleichzeitig die Wirtschaft aufzurichten und Freiheitsrechte in Kraft zu setzen, komme man aber nicht umhin, eine „Sphäre der Betätigung“ und eine „Sphäre besonderen Schutzes“ voneinander zu trennen. Bei der aktuellen Strategie der Politik drohe die Gefahr, den Kampf gegen das Virus ebenso zu verlieren wie Wirtschaft und Freiheit.

Flankiert werden müsse das Vorgehen mit Daten-Technik und viel mehr Tests, die auch ein Stück Freiheit wiederbringen könnten. „Am Tag eines negativen Testes kann man gefahrlos die derzeit isolierte Mutter im Pflegeheim besuchen.“ Dass Kapazitäten nicht ausgeschöpft würden und nur bei Symptomen getestet werde, sei ein „Skandal“.

Vorbilder kennt Palmer höchstens in Ansätzen. Im Tessin habe es ein Einkaufsverbot für Senioren gegeben. Wenn die Menschen alles kostenlos geliefert bekämen, sei so etwas „nicht falsch“.