Literatur

Verwandte Geister

T. C. Boyles Roman „Sprich mit mir“ beleuchtet ein wenig bekanntes Kapitel der Forschungsgeschichte: Schimpansen, die Gebärdensprache erlernten.

25.01.2021

Von JANA ZAHNER

In der Natur verständigen sich Primaten auch mit Gesten. Der Psychologe Roger Fouts brachte in den 70ern Schimpansen Gebärdensprache bei  und inspirierte offenbar T. C. Boyle. Foto: Antje Passenheim/dpa

In der Natur verständigen sich Primaten auch mit Gesten. Der Psychologe Roger Fouts brachte in den 70ern Schimpansen Gebärdensprache bei und inspirierte offenbar T. C. Boyle. Foto: Antje Passenheim/dpa

München. Sam ist zwei Jahre alt, trägt Windeln, liebt seinen Plüschhund und Pizza. Manchmal darf er abends Wein trinken oder einen Joint rauchen, damit er leichter ins Bett zu bringen ist. Sam ist ein Schimpanse und die Hauptfigur von T. C. Boyles neuem Roman „Sprich mit mir“.

Mehrere Werke des US-amerikanischen Kultautors wie „Das Licht“ oder „Die Terranauten“ beschäftigen sich mit dem Wissenschaftsbetrieb, so auch seine neueste Veröffentlichung: Sam wird zwar von dem Psychologiedozenten Guy Schermerhorn und einem Trupp wissenschaftlicher Hilfskräfte wie ein menschliches Kleinkind aufgezogen, trotzdem bleibt er ein Versuchstier. Der ehrgeizige Guy bringt Sam Gebärdensprache bei und will damit beweisen, dass unsere nächsten Verwandten sprechen können. Mit Erfolg: Sam kann gestikulierend seine Zieheltern mit Namen ansprechen, seine Wünsche mitteilen und sogar lügen – vorzugsweise, wenn er mal wieder sämtliche Schubladen ausgeräumt oder Süßigkeiten geklaut hat.

Dass Schimpansen hochintelligent sind, ist bekannt. Aber ein sprechender Affe? Das erinnert an den Science-Fiction-Film „Planet der Affen“, nach dichterischer Freiheit. Primaten mit außergewöhnlichen Fähigkeiten sind ein beliebtes Sujet der Literatur. Die Stuttgarter Literaturwissenschaftlerin Alexandra Tischel nennt in ihrem Buch „Affen wie wir“ zahlreiche Beispiele von E. T. A. Hoffmann über Franz Kafka bis J. M. Coetzee. Doch in der Regel geht es in den Erzählungen mehr um uns als um das Tier.

„Was macht uns zum Menschen?“ Diese Frage bewegt seit jeher auch die Wissenschaft. Tatsächlich hatte die Sprachforschung mit Affen in den 70er Jahren Hochkonjunktur in den USA. Der Psychologe Roger Fouts brachte zahlreichen Primaten erfolgreich Gebärdensprache bei. Sein Leben mit der Schimpansin Washoe schildert er in dem Buch „Unsere nächsten Verwandten“. Es spricht vieles dafür, dass Fouts Biografie eine Quelle für Boyles Roman darstellte. Als Fouts sich auf eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft bewirbt, springt ihm Washoe in die Arme – sie wählt ihren Betreuer selbst aus.

Eine ähnliche Szene steht am Anfang von „Sprich mit mir“. Sam fällt der bis dato antriebslosen Studentin Aimee um den Hals, es ist Liebe auf den ersten Blick. Aimee findet ihren Lebenssinn in Sam, verbringt jede freie Minute bei dem Schimpansen, schaut mit ihm Filme und liest ihm Geschichten vor. Doch das Tier gehört ihr nicht, auch nicht Guy, der ihr Geliebter wird. Das idyllische Zusammenleben findet ein brutales Ende, als Guys Doktorvater Moncrief Sam zurückfordert. Moncrief ist eine diabolische Erscheinung, Augenklappe, Elektroschocker und Siegelring sind seine Attribute. Wie H. G. Wells' Dr. Moreau oder Mary Shelleys Viktor Frankenstein geht der Wissenschaftler über Leichen. Bissig schreibt Boyle: „Die Wissenschaft diente nur als Ausrede, um einem Wesen in einem Käfig seinen Willen aufzuzwingen.“

Aus Guys verhätscheltem Haustier will Moncrief wieder „einen Schimpansen machen“. Als er Sam in einen seiner winzigen Käfige sperrt, zeigt sich jedoch, dass auch Guys und Aimees liebevolle Aufzucht ein Verbrechen am Tier darstellt. Sam ist eine Art moderner Frankenstein, der weder in die Natur noch in die Zivilisation gehört: Er weiß nicht, was ein Schimpanse ist, seine Artgenossen bezeichnet er unaufhörlich mit der Gebärde für „Käfer“. Ein Verhalten, das auch Roger Fouts in seinem Buch über Washoe schildert.

Wie in der Realität verliert auch im Roman die Wissenschaft irgendwann das Interesse an der Sprachforschung mit Affen. Kritiker monieren, es handele sich bei den sprechenden Schimpansen nur um gut dressierte Tiere, nicht um denkende und fühlende Wesen. Mit einem literarischen Kniff stellt Boyle sich unmissverständlich auf die Gegenseite: Ganze Kapitel sind aus Sams Perspektive erzählt, schildern sein Leiden in Moncriefs Affenfarm in den Worten, die er von Guy gelernt hat. Ihm droht noch ein viel schlimmeres Leben: Sam soll in der medizinischen Forschung mit HIV infiziert werden. Das will Aimee nicht zulassen. . .

„Sprich mit mir“ ist alles andere als ein Wohlfühlroman. T. C. Boyles Witz, wie man ihn aus dem historischen Roman „Wassermusik“ kennt, fehlt und wäre dem Thema auch nicht angemessen. Stattdessen vermittelt Sams Geschichte eine unbarmherzige Erkenntnis: Im Grunde will der Mensch gar nicht wissen, was im tierischen Geist vor sich geht, weil er den Verlust seiner Einzigartigkeit fürchtet.

Wissenschaftler wie Roger Fouts stellen eine Ausnahme dar. Er verzichtete auf eine Karriere an der Elite-Universität Yale, um Washoe und seinen anderen sprechenden Affen ein würdiges Leben zu ermöglichen. Ihre Geschichte ist heute in Deutschland weitestgehend unbekannt. T. C. Boyles Roman könnte das ändern – und die Diskussion um Tierrechte bereichern.

: Sprich mit mir. Übersetzt aus dem Englischen von Dirk Gunsteren, Hanser Verlag, 352 Seiten, 25 Euro. T. C. Boyle Foto: Hanser Verlag

: Sprich mit mir. Übersetzt aus dem Englischen von Dirk Gunsteren, Hanser Verlag, 352 Seiten, 25 Euro. T. C. Boyle Foto: Hanser Verlag

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Erstellt:
25.01.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 19sec
zuletzt aktualisiert: 25.01.2021, 06:00 Uhr

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