Stadtentwicklung

Vernetzt in die Zukunft

Marketing-Professor Gerd Nufer von der Hochschule Reutlingen spricht über die weiter wachsenden Anteile des Online-Handels, die smarten Innenstädte der Zukunft und die Chancen für kleine Händler, sich auf möglichst vielen Kanälen auch in der digitalen Welt behaupten zu können.

05.03.2021

Von Interview: Matthias Reichert|FOTO: Horst Haas

Städte müssen ein Leitbild entwickeln und eine einzigartige Identität finden, um sich von anderen abzuheben, sagt Prof. Gerd Nufer.

Städte müssen ein Leitbild entwickeln und eine einzigartige Identität finden, um sich von anderen abzuheben, sagt Prof. Gerd Nufer.

Wie sehen nach Ihrer Ansicht die deutschen Innenstädte in 20 Jahren aus?

Wahrscheinlich gibt es eine starke Konzentration der großen stationären Ketten auf urbane Zentren – „Smart Cities“, verbunden durch moderne Technologien. Die größeren Städte werden sich somit in der Handelslandschaft weiterhin ähneln, die kleineren werden lokaler werden mit regionalem Handel. Der Fokus in den Innenstädten wird auf Erlebnis- statt Versorgungshandel liegen. Der Versorgungshandel wird eher in Suburbia ablaufen, wo es genügend Parkplätze gibt. In den Innenstädten wird die Aufenthaltsqualität steigen, sie werden grüner und sauberer werden, man wird Wert legen auf ein inspirierendes Design öffentlicher Plätze.

2019 lag der Anteil des Online-Handels bundesweit
bei knapp neun Prozent. Wie stark wird er Ihrer Einschätzung nach in den kommenden Jahren zunehmen? Wovon hängt das ab?

2020 ist der Online-Anteil vor allem Corina-bedingt auf elf Prozent gestiegen. 2021 könnten es 13 Prozent werden. Seriöse Prognosen sehen den Online-Handel 2030 bei zirka 30 Prozent. Das erscheint mir durchaus realistisch. Eine Frage wird sein, wie die Wirtschaft aus der Corona-Krise herauskommt. Die Zahlen der Gesamtwirtschaft sind aktuell noch relativ positiv, das heißt, momentan ist das große Sterben im stationären Handel noch nicht zu beobachten. Aber wenn die Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen noch ein Jahr weitergehen, sieht das womöglich anders aus.

Corona und der Lockdown haben die Digitialisierung
ja noch beschleunigt. Führt das in absehbarer Zeit zum großen Sterben der kleinen Ladengeschäfte?

Ich würde umgekehrt argumentieren: elf Prozent Online-Anteil im Handel heißt, dass die ganz große Mehrheit noch stationär einkauft. Selbst 30 Prozent in zehn Jahren wären noch ein klares Verhältnis zugunsten von stationärem Handel. Die Solidarität der Bevölkerung mit den kleinen, lokalen Händlern ist spürbar. 50 Prozent der Menschen sagen laut einer aktuellen Umfrage, dass sich ihr Einkaufsverhalten durch Corona nicht verändert habe. Die kaufen unverändert längst noch nicht alles bei Amazon ein, sondern halten den örtlichen Händlern die Treue. Aber wie das in 30 Jahren aussieht, wage ich heute noch nicht vorherzusagen.

Was bedeutet der Trend zum Einkauf im Internet für
die kleinen Händler in den Innenstädten?

Da gibt es verschiedenen Szenarien: Manche werden aufgeben müssen. Andere werden zur Erkenntnis kommen: Online sind die Produkte billiger, ich muss schauen, wie ich mich umorientiere und Kosten spare, um mithalten zu können. Viele werden den Schritt zum „Multi-Channel-Anbieter“ wagen, also selbst offline und online auf mehreren Verkaufskanälen vertreten sein. Es werden Händler die Online-Welt für sich entdecken, die bisher noch gar nicht daran gedacht haben.

Eine wachsende Rolle werden Mischungen aus stationärem und Online-Handel spielen. Etwa „Click and Collect“, also im Internet bestellen und im Laden abholen. Das wird state of the art werden. Big Data und künstliche Intelligenz werden unterstützend dazukommen. Die Technologien sind da, die Frage ist, wie sie in den kommenden Jahren vom Handel genutzt werden. Kleine Händler werden davon profitieren, dass es ein starkes Bewusstsein bei den Konsumenten für regionale Produkte gibt. Viele Leute wollen die kleinen Händler solidarisch unterstützen.

Was können diese konkret unternehmen?

Sie können Aufklärungskampagnen starten und aktiv zum lokalen Einkaufen aufrufen. So kann man die Vorteile des stationären Handels herausstellen, etwa eine differenzierte, regionale Produktpalette oder die persönliche Beratung. Eine weitere Lösung zur Abgrenzung ist erlebnisorientiertes Einkaufen, wenn die Kunden etwa beim Modekaufen im selben Store zwischendurch auch einen Kaffee trinken können. Die Händler sollten den Leuten Lust machen, zu ihnen zu kommen, und sich stärker vom Internet differenzieren. Allein das Argument haptisches Kauferlebnis reicht hierfür nicht. Das haben die Erfahrungen gezeigt. Heute wird nahezu alles online gekauft, auch zunehmend Lebensmittel.

Viele kleine Einzelhändler werben mit persönlicher
Beratung. Allerdings schlägt sich das oftmals in
den Preisen nieder. Wie können die kleinen Läden
hier konkurrenzfähig bleiben?

Sie können sich zum einen im Premiumsegment positionieren. Dort sind die Waren zwar teurer, aber viele Konsumenten sind bereit, den höheren Preis zu bezahlen, wenn Sie dafür bessere Qualität erhalten. Zusätzliche Umsatzquellen können die Händler durch Service, Treue und „Upselling“ erschließen, also größere Folgekäufe nach kleineren Erstkäufen. So wie man beim Bäcker erst nur Brötchen kauft und später die Geburtstagstorte. Viele Händler verteilen an die Kunden auch Treuekarten – zum Beispiel zehn Stempel für eine Gratispizza. Das ist Kundenbindung: aktiv dafür sorgen, dass die Leute wiederkommen. Zudem sollten die Händler die digitale Welt in ihren stationären Handel integrieren. Sie könnten beispielsweise mit digitalen Touchpoints in ihren Geschäften arbeiten – um den Kunden zu demonstrieren, dass sie auf aktuellem Stand sind.

Wie können Stadtverwaltungen die
Innenstädte attraktiver machen?

Städte müssen ein Leitbild für sich entwickeln, eine einzigartige Identität für ihre Stadt finden, und damit den Leuten vermitteln, was bei ihnen anders ist als anderswo: Wie grenze ich mich von anderen Städten ab, was ist unser Markenkern? So wie Reutlingen das als Großstadt im Biosphärengebiet tut. Kommunen können überdies kreative Konzepte zur Zwischennutzung bei Leerständen entwickeln. Also nicht auf den nächsten Zehn-Jahres-Pachtvertrag warten, sondern beispielsweise Pop-up-Stores oder soziale Nutzungen ermöglichen. Ein weiterer Weg sind Kooperationen von Händlern oder lokalen Gastronomen. Man muss gemeinsam nach Lösungen suchen. Ulm vermarktet sich als „Clever City“, Solingen als „Digitalstadt“. Es gibt also meines Erachtens einige, die bereits auf dem richtigen Weg sind.

Wie haben sich das Angebot im Online-Handel und
die Gestaltung der Online-Shops in den vergangenen Jahren verändert? Wohin geht der Trend?

Ein Trend ist die Verknüpfung von Offline- und Online-Formaten. Erst sind die Waren auf mehreren Kanälen parallel verfügbar, dann idealerweise auf allen möglichen: vom „Multi-Channel“ zum „Omni-Channel“. Die Händler müssen sich in die Rolle des Kunden hineinversetzen und überlegen, was diesen gefällt. Das nennt man Marketing entlang der „Customer Journey“ oder „User Experience“.

Ein weiterer Trend geht zum „Mobile Commerce“: dass die Kunden nicht mehr nur zuhause vorm Rechner bestellen, sondern immer und überall übers Smartphone schnell etwas einkaufen. Das entwickelt sich rasant weiter in Richtung „Social Commerce“: Vieles wird via Social Media gekauft, wenn einem die Lieblingsinfluencer etwas vormachen und empfehlen. Die Händler müssen es den Leuten möglichst einfach machen. Nachhaltigkeit, Transparenz und Umweltschutz sind Trendthemen, deren Beachtung die Kunden erwartet. Die damit verbundenen Hausaufgaben muss jeder Händler machen. Das ist der Punkt, wo kleine Händler sogar im Vorteil sein können und glaubwürdiger rüberkommen, denn ihnen nimmt man das eher ab als großen Konzernen.

Die Arbeitsbedingungen der großen Versandhändler werden oftmals kritisiert. Sehen Sie hier eine Chance auf Verbesserungen in absehbarer Zeit? Und wie?

Der zunehmend aufgeklärte Konsument informiert sich über die genannten Punkte und übt öffentlich Druck aus. Aber wenn für ihn am Ende des Tages doch Schnelligkeit, Bequemlichkeit und der Preis entscheidend sind, wird er bei Amazon einkaufen – beim Billigsten und Schnellsten und dem, der das Einkaufen von der eigenen Couch aus am bequemsten macht.

Prof. Gerd Nufer
lehrt Betriebswirtschaft

mit den Schwerpunkten Marketing, Handel und Sportmanagement an der ESB Business School der Hochschule Reutlingen. Dort ist der 50-Jährige Studiendekan des MBA International Management und Executive Program Advisor des berufsbegleitenden Master-Studienprogramms International Retail Management. Weiter leitet er das Institut für Marketing, Marktforschung und Kommunikation sowie das Deutsche Institut für Sportmarketing. Nufer verfügt über langjährige Praxiserfahrung an der Schnittstelle von Wirtschaft und Sport. Seine Lehr-, Forschungs- und Beratungsschwerpunkte sind Marketing-Kommunikation, Sport- und Event-Marketing, innovatives Marketing und internationale Marktforschung.
Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Beiträge in nationalen und internationalen Fachpublikationen und erhielt bereits mehrere Auszeichnungen für seine Forschung und Lehre. Seine Expertise ist auch von Medien und als Gutachter gefragt.

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Erstellt:
05.03.2021, 07:29 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 53sec
zuletzt aktualisiert: 05.03.2021, 07:29 Uhr

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