Vergiftetes Leben

Der Mössinger Jochen Steinhilber kämpft gegen seine Erkrankung und drohende Verarmung

Früher machte Jochen Steinhilber vier bis fünf Mal pro Woche Sport. Jetzt schleppt er sich vom Wohnzimmer in die Küche. Sein Körper baut Metalle, Pestizide und Lösemittel nicht oder nur unzureichend ab. Der Mössinger kämpft gegen die Erkrankung - und die drohende Verarmung.

06.10.2018

Von Susanne Wiedmann

Mit Nahrungsergänzung gegen Zellstress: Jochen Steinhilber in seinem Wohnzimmer. Bild: Anne Faden

Mit Nahrungsergänzung gegen Zellstress: Jochen Steinhilber in seinem Wohnzimmer. Bild: Anne Faden

Er trägt eine Trainingsjacke, eine Bermuda und Turnschuhe. Ein Trampolin steht neben ihm und ein Fitnessrad. Aber Jochen Steinhilber sitzt auf dem Sofa. Sein Gesicht ist fahl, seinen Kopf stützt er mit den Händen. Er ist erschöpft. Dieses Sofa im Wohnzimmer ist sein Schlafplatz, mehr noch: sein Lebensort. Hier hat er sich eingerichtet. Eine Kommode mit Fernseher und ein Couchtisch mit Fachbüchern. Was Jochen Steinhilber am dringendsten braucht, hat er auf einem Tablett zusammengestellt: Ein Zerstäuber mit Magnesiumchlorid, mit dem er seinen Körper besprüht, um die Muskeln zu entspannen, gereinigtes Wasser, Entgiftungstees, Opioide gegen starke Schmerzen, eine Schachtel Kopfschmerztabletten, Mariendistelextrakt für die Leber, eine Taschenlampe für die Nacht.

Spätestens um halb drei Uhr nachts wacht er auf. Er kauert sich dann zusammen, versucht die Schmerzen auszuhalten. Jede Nacht zwingen sie ihn aufzustehen. Dann läuft er minutenlang zwischen Sofa und Küche auf und ab. Er hat im ganzen Körper Schmerzen bis in die Finger und in die Zehen, ziehende Muskel- und Gelenkschmerzen. Und fünf, sechs Mal im Monat über drei, vier Tage heftige, brennende Kopfschmerzen, als machte jemand Feuer im Kopf. Seiner Frau will er die nächtliche Unruhe nicht mehr zumuten. Also zog er aus, ins Wohnzimmer.

Im Dezember 2012 ging es los. Zwei Mal Notaufnahme. Taubheitsgefühle, Erschöpfung, Muskelzuckungen, ausstrahlende Schmerzen am linken Arm. Angst. Da war er 39 Jahre alt und befürchtete, etwas am Herzen zu haben. Erhöhte Leberwerte wurden festgestellt und eine Schilddrüsenunterfunktion, sonst nichts. Es kamen Fragen. Eine war: Haben Sie gestern zu viel getrunken? Steinhilber wurde entlassen, ohne Befund. Dabei hat er eine Fülle von Symptomen. Aber kein klares Krankheitsbild. Seine Therapien haben ihn bisher rund 120 000 Euro gekostet. Ein Vertreter der AOK, der namentlich nicht genannt werden möchte, sagt: „Wir dürfen nur die Behandlungsmethoden übernehmen, die der Gemeinsame Bundesausschuss positiv entschieden hat und damit zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gehören.“ Jochen Steinhilber kämpft nicht nur gegen die Erkrankung, sondern auch gegen die drohende Verarmung. Vor allem kämpft er dafür, dass seine Krankheit anerkannt wird.

Anfang 2013 diagnostizierte sein früherer Hausarzt: Depression. Steinhilber folgte seinem Rat, ließ sich in eine Psychosomatische Klinik einweisen und nahm die verabreichten Antidepressiva. Das hat alles verschlimmert. Er konnte nicht mehr schlafen und nicht mehr weinen. Er fühlte sich leer und dachte an Selbstmord. Dann Psychiatrie, Depressionsstation. Nach fünfeinhalb Monaten hat er gesagt: Jetzt reicht’s.

Das war erst der Anfang. Er ging von Arzt zu Arzt. Tatsächlich weitergebracht hat ihn aber erst ein Gentest, auf eigene Rechnung: 450 Euro. Für ihn war es wie eine Erlösung, das Beweisstück dafür, warum es ihm so schlecht geht: Neun Enzyme sind verändert, sein Körper baut Giftstoffe nicht oder nur unzureichend ab: Pestizide, Lösemittel, Metalle lagern sich in seinem Körper ein, verursachen Entzündungen. Sein behandelnder Arzt, Umweltmediziner Dr. Harald Banzhaf, sagt: „30 bis 40 Prozent der Bevölkerung hat einzelne Genvarianten, also Polymorphismen. Wer aber viele hat, wie Herr Steinhilber, hat ein echtes Problem. Die Anhäufung macht chronische Entzündungen.“ Jochen Steinhilbers Immunsystem kämpft, verbraucht die Energie, die er bräuchte, um seinen Alltag zu bewältigen.

Auf dem Frühstückstisch, wenige Meter vom Sofa entfernt, liegen Brötchen und Croissants für seine Frau und Jule, die zehnjährige Tochter. Jochen Steinhilber bleibt auf der Couch. Ein paar Schritte ins Bad, das geht, mehr nicht, nicht am Morgen. Es ist anstrengend, sagt seine Frau. Und Jule findet es doof, wenn Papa nicht mit ihr spielen kann. Aber viel schlimmer ist, sagt seine Frau, wenn Jule leise sein muss, weil ihr Vater keinen Lärm erträgt. Seine Nerven sind überreizt. Aber Jule ist ein kleiner Wirbelwind, der singt und tanzt und auf Mamas Stöckelschuhen durch die Wohnung klackt.

Am späten Vormittag, Nachsorgetermin in einer Zahnarztpraxis. Zwei Wochen zuvor war die Kiefer-Operation. Es war die achte OP in den vergangenen Jahren. Jochen Steinhilber hatte elf Amalgam-Füllungen. Manche Zahnärzte verwenden noch heute Amalgam. Andere sprechen von hochgiftigem Sondermüll. Die Entzündungen wurden aus dem Knochen gefräst und gelöffelt. Was da rauskam, war kein fester Knochen, sondern gallertartige Schlonze, sagt Steinhilber. Er hat die Schlonze in Formalin gepackt und ins Umweltlabor Bremen geschickt. Gefunden haben sie Aluminium und Arsen, Quecksilber, Barium und Blei. Er sagt, es waren extrem hohe Werte. Und dass sich in diesem von Giften durchdrungenen Milieu Infektionen immer wieder vermehren. Rund 20 000 Euro habe er für seine Kiefersanierung bisher selbst bezahlen müssen. Aber er könne nur gesund werden, wenn die Gifte aus dem Körper seien. 5000 Euro übernahm die Krankenkasse und sagt: „Wir haben die üblichen Kassensätze bezahlt, obwohl Herr Steinhilber bei einem Privatarzt in Behandlung war.“

In der Zahnarztpraxis wird Jochen Steinhilber die Infusion gesetzt, hochdosiertes Vitamin C soll helfen, die freigesetzten Metalle und Lösemittel aus dem Körper zu leiten und das Immunsystem zu pushen. Jeweils 100 bis 150 Euro auf eigene Kosten. „Monatlich gehen zwischen 300 und 800 Euro allein für Nahrungsergänzung flöten.“ Vitamine und Mineralstoffe als Energielieferanten und bindende Substanzen. Die Krankenkasse sagt: „Nahrungsergänzungsmittel gehören in der ambulanten Versorgung nicht zum Leistungskatalog.“ Harald Banzhaf sagt: „Das ist völlig unverständlich. Spezielle Nahrungsergänzungsmittel bändigen den Zellstress. Und Umwelterkrankungen machen Zellstress.“

„Papa, beeil dich“, ruft Jule nach eineinhalb Stunden. Sie ist mitgekommen, es sind Ferien, es ist heiß und langweilig. Jochen Steinhilber drückt sich vom Sessel hoch zum Infusionsständer, jetzt fallen die Tropfen schneller. Zuhause spielt sie die Behandlung nach. Dann ist Jule die Ärztin und legt die Infusion. Eine Tüte genügt als Infusionsflasche, da ist sie anspruchslos, hängt sie über ihr Hochbett, klebt eine Schnur dran und erwartet, dass Papa sich aufs Bett setzt. Oft tröstet ihn Jule. „Ich habe unglaubliche Angst, dass bei ihr was hängenbleibt für später“, sagt der Vater.

Jeden Tag sieht sie, wie er mit Schmerzen auf der Couch herumliegt, wie ihm die Kraft fehlt, um sich mit ihr zu beschäftigen. „Ich liebe Kinder. Das ist eine unglaubliche Entbehrung.“ Er versucht, seine Tränen zu unterdrücken.

Jochen Steinhilber ist in Mössingen aufgewachsen, Abitur am Wirtschaftsgymnasium Tübingen, Einzelhandelsausbildung in einem Sportgeschäft, drei Semester Sportökonomie in Bayreuth. Zurück ins Sportgeschäft, nebenbei Fernstudium Sportmanagement, dann in die Industrie. Mehr als 20 Jahre arbeitete er in der Sportartikelbranche, oft 70 Stunden in der Woche. Die verkauften Artikel waren aus Kunststoffen. Lösemittel und Fabrikationsmittel dünsteten aus. „Jeder weiß, wie neue Schuhe riechen“, sagt Jochen Steinhilber. Anfang 2013 war Schluss. Er sollte zur Internationalen Sportmesse nach München. Aber er war nur fertig.

Am Nachmittag liegen zu Hause auf dem Esstisch: Röntgenbilder, Stapel von Leitzordnern, Fachbücher. Wer sich nicht um sich selbst kümmere, ende in jahrelangem Siechtum, sagt er. Er sehe das bei anderen Betroffenen. Steinhilber sagt, er leide an einer Multisystemerkrankung, dann wirft er mit Ausdrücken um sich: Chronisches Erschöpfungssyndrom, Multiple Chemikaliensensitivität, Neuroborreliose, Epstein Barr Virus. Steinhilber ist zum Experten geworden, nachdem er 20 bis 25 Ärzte aufgesucht hatte, die ihm nicht weiterhelfen konnten oder die ihm zu verstehen gaben, sie würden sich nicht darum reißen, ihn zu behandeln. Mittlerweile hat er Ärzte gefunden, denen er vertraut: Zahnarzt, Internist, Schmerztherapeut. Und Umweltmediziner Harald Banzhaf. Er sagt: „Herr Steinhilber ist ein Paradebeispiel, er passt nicht in das universitär-wissenschaftliche Denken. Das ist aufgebaut nach dem monokausalen Ursache-Wirkung-Prinzip. Aber die Zusammenhänge sind schwierig und komplex.“

Es war im Oktober 2014, als der Mössinger sich das erste Mal im Tagesklinikum Cham in der Oberpfalz an ein Dialyse-Gerät anschließen ließ. Sein Blutplasma wurde gewaschen. 14 Blutwäschen hat er bis heute hinter sich. Was im Filter hängenbleibt, läuft in einen Beutel. „Wollen Sie die Dreckbeutel sehen?“, fragt er, schlurft in den Flur, die Dreckbeutel haben ihren eigenen Kühlschrank, kommt an den Tisch zurück, legt die Dreckbeutel voll orangefarbener Brühe hin. Manche sehen aus wie klumpiges Aprikosenpüree. „Orange ist typisch für Entzündungen. Ein normales Blutplasma sieht aus wie Eiklar.“ Der Arzt hat es analysieren lassen, er wollte wissen, was das ist. Gefunden haben sie: Lösemittel, Pestizide und Metalle. Bei den ersten Blutwäschen waren neun verschiedene Lösemittel nachweisbar, ein Drittel lag 12- bis 15-fach über dem zulässigen Grenzwert. Und die Grenzwerte gelten nur für die einzelnen Stoffe. „Aber niemand untersucht, wie der Cocktail wirkt.“

2000 Euro kostet ihn jede Blutwäsche ohne Analyse und ohne Anfahrt. Wieder zahlt Steinhilber. Die Krankenkasse sagt: Die Dialyse, um die Funktion der Nieren zu unterstützen, gehört zum Leistungskatalog. Eine Blutwäsche, mit der schädliche Stoffe aus dem Körper gespült werden sollen, dagegen nicht. „Sie ist vom Gemeinsamen Bundesausschuss nicht anerkannt worden, weil keine belastbaren Ergebnisse und wissenschaftlichen Studien vorliegen. Es ist kein Beschluss getroffen worden, der uns dazu berechtigen würde, die Leistung zu bezahlen.“

Steinhilbers Ersparnisse der vergangenen Jahre schrumpfen und mit ihnen die Hoffnung. Nach Arbeitslosengeld und Krankengeld beantragt er Erwerbsminderungsrente. Dazwischen liegen Monate, in denen er „unglaubliche Existenzangst“ hat. Fast alle Einnahmen fehlen, aber die Kosten für seine Gesundheit steigen unaufhaltsam. Trotzdem scheint es zunächst undenkbar, um Hilfe zu bitten. „Ein beklemmendes Gefühl, zu betteln. Aber wir waren so verzweifelt, dass wir gesagt haben, es bleibt uns nichts anderes übrig.“

Ein Bekannter hat geholfen, eine Internetseite aufzubauen und Flyer zu drucken. Daraufhin sammeln Sportvereine, setzen Torprämien aus. Unternehmen und Privatleute spenden. Auf den Verkaufstresen der Bäckerei Padeffke stehen Spendendosen. „Ohne die Spenden könnte die kostenintensive Therapie nicht weitergeführt werden.“

Jochen Steinhilber versteht es nicht: Jahrelang zahlte er seine Krankenkassenbeiträge, nie war er krank. Und jetzt, wo er krank ist, muss er fast alles selbst bezahlen. Zwar übernimmt die Krankenkasse Steinhilbers Aufenthalte in einer Umweltklinik. Aber er klagt auf Kostenübernahme für Blutwäsche, Schwermetallausleitung, bildgebende Diagnostik, Nahrungsergänzungsmittel. Der Richter bestätigt die Auffassung der AOK: Die gesetzliche Krankenkasse dürfe nur die Leistungen übernehmen, die der Bundesausschuss definiert habe. Mit der Ausnahme: Jemand leidet an einer lebensbedrohlichen Krankheit und es gibt keine Behandlungsmethode, die im Leistungskatalog zugelassen ist. Dann wird über den Einzelfall entschieden.

Als es um die Aussicht auf Heilung ging, habe der Richter aber gesagt, man sehe bei den Werten des Eluats der Blutwäsche, dass sich sein Zustand gebessert habe. „Man ist ja in der Beweislast als Patient“, sagt Steinhilber. Deshalb lässt er seine Dreckbeutel analysieren, jeweils für rund 400 Euro. Für jeden Giftstoff zeichnet er ein eigenes Kurvendiagramm. Der Streitwert lag bei rund 45 000 Euro. Letztlich bekam er etwa 5000 Euro im Vergleich. Damit gibt sich Steinhilber nicht zufrieden. Er behält sich vor, wieder zu klagen. Und zwar sobald die wissenschaftliche Studie aus Cham vorliegt, die die Effekte der Blutwäschen untersucht.

Seine besten Stunden sind am Nachmittag. Ein richtig guter Tag ist, wenn es ihm gelingt, seinen Schreibkram zu erledigen, Krankenkasse, Rentenversicherung, Berufsunfähigkeitsversicherung. Wenn er es zum Briefkasten schafft. Und wenn er Zeit mit seiner Familie verbringen kann.

Nie hätte er gedacht, dass ihm Bewegung so schwerfallen würde. Früher machte er vier bis fünf Mal pro Woche Sport. Jahrelang spielte er Fußball beim SV Nehren, TSV Ofterdingen, der Spvgg Mössingen, zuletzt beim FC Erpfingen-Willmandingen. Der Sport fehlt ihm am meisten. Und die Kontakte. Er ist jetzt 45 Jahre alt und oft einsam. Seit er krank ist, haben sich viele Freunde und Verwandte zurückgezogen. Manche fragen: Was hat er eigentlich? Man hört von Vergiftung, aber warum lässt er sich jetzt den Kiefer sanieren. Spinnt er?

Er hat Fußballspiele mit Verlängerung und Elfmeterschießen hinter sich gebracht. Oder bei Hallenturnieren über drei Tage gespielt. Das war kräftezehrend. Aber diese bleierne Erschöpfung zermürbt ihn.

„Ich bewundere meine Frau, für das, was sie erträgt und mit mir durchmacht jeden Tag. Das ist eigentlich ein Killer für jede Beziehung.“ Das meiste bleibe an ihr hängen. Oft könne er sich nicht einmal in kleinen Dingen nützlich machen. Allein um die Spülmaschine ein- und auszuräumen, braucht er manchmal einen halben Tag. Aber es ist ein Fortschritt. Solche Dinge konnte er vor zwei Jahren nicht.

Am Abend sitzen sie zu dritt auf dem Sofa. Im Fernsehen läuft: „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“. Seine Frau und Tochter Jule schauen zu. Er ist eingeschlafen.