Tübingen · Stadtbahn

Veränderung als Voraussetzung für die Bewahrung

Die drei Bürgermeister reagieren mit einem Brief auf die Kritik des Schwäbischen Heimatbunds an der Innenstadtstrecke.

03.08.2021

Von ST

Die drei Tübinger Bürgermeister Boris Palmer, Cord Soehlke und Daniela Harsch haben in einem Brief gemeinsam der Ortsgruppe Tübingen des Schwäbischen Heimatbundes geantwortet. Diese hatte sich gegen die Innenstadtstrecke ausgesprochen (wir berichteten).

Die Bürgermeister erinnern zunächst an die Gründung des Schwäbischen Heimatbundes. Dabei habe der Tübinger Alleenstreit eine große Rolle gespielt. „Die Entwicklung zwischen Bahnhof und Neckar wie auch der Bau der Ammertalbahn führten Anfang des letzten Jahrhunderts zu schmerzhaften Verlusten bei den stadtbildprägenden Alleen im mittleren Wöhrd. Der Streit zwischen den Befürwortern der ,Millionenbauten von Stadt und Staat`, wie es der legendäre Eugen Nägele ausdrückte, und den ,Heimatschützern‘ um die Professoren Fuchs und Lange spaltete die Stadt. Doch schon wenige Jahr nach dem Bau der Ammertalbahn mochte sie niemand mehr missen und Oberbürgermeister Hauser konnte namhaften Vertretern des zweiten internationalen Heimatschutzkongresses bereits 1912 unter Beifall versichern, dass Heimatschutz und Gemeindeverwaltung Tübingen Bundesgenossen seien. Auch als Kompensation für die Eingriffe durch die Ammertalbahn wurde das doppelreihige Kastanienrondell gepflanzt, das heute noch eine prachtvolle Wirkung entfaltet.“

Ähnlich sei die Gegenwart: „Heute scheinen die Mehrheit des Stadtrates und die überwältigende Mehrheit der Parlamente in der Region wieder in einen Konflikt zwischen Heimatschutz und Eisenbahnbau zu geraten.“ Doch seien die Vorstellungen vom Schutz der Heimat unterschiedlich: „Wir sehen unsere Tübinger Heimat nicht durch den Eisenbahnbau, sondern durch den Klimawandel, den drohenden Niedergang von Handel und Gastronomie in der Altstadt und die industrielle Transformation bedroht.“

Entsprechend lauten die Lösungen: „Klimafreundliche Infrastruktur aufbauen. Die Erreichbarkeit der Altstadt für Bürger und Besucher verbessern. Die Exzellenz der Universität stärken und neue Geschäftsfelder der Hochtechnologie aufbauen, so in der KI und der Biotechnologie. Die Innenstadtstrecke der Regionalstadtbahn ist ein umstrittenes, aber sinnvolles Element dieser Strategie zum Schutz unserer Heimat. Denn sie erlaubt klimafreundliches Wachstum von Wirtschaft und Wissenschaft in Tübingen und stärkt die Innenstadt.“

Dann schreiben die Bürgermeister: „Ihr Verständnis von Heimatschutz wendet sich, so scheint es uns, gegen alle diese Veränderungen und setzt stattdessen darauf, den bestehenden Zustand zu bewahren.“ Dass viel umgebaut wird, räumt die Stadtspitze ein, sieht das aber positiv: „Wir stimmen Ihnen zu, wir befinden uns in einer historischen Phase des Stadtumbaus. Doch fragen wir Sie, ob dieser nicht notwendig war? Der Umbau der Karlstraße und der Mühlstraße sind kaum zehn Jahre alt. Beides war heftig umstritten und wurde teilweise massiv bekämpft. Schon jetzt wollen Sie diese ziemlich neuen Errungenschaften vor einem Umbau schützen. Die Neubauten an der Blauen Brücke haben die hässliche Hotelruine ersetzte. Die Alte Weberei und der Güterbahnhof waren traurige Brachflächen, jetzt sind sie lebendige Quartiere, auf denen bezahlbarer Wohnraum für viele neue Tübingerinnen und Tübinger entstanden ist. Das Bahnhofsumfeld war völlig heruntergekommen, der Busbahnhof kaum noch funktionsfähig und das Bahnhofsgebäude verschandelt. Hier wird es schon bald einen neuen Stadteingang mit großen Qualitäten geben, der das Stadtbild erheblich aufwertet. Die Universität hat ihre großen Neubauten auf dem früheren Großparkplatz der Morgenstelle realisiert, der Technologiepark ist auf der Brachfläche der Bundesforschungsanstalt entstanden.“

Die Bürgermeister fassen zusammen: „Wir halten diesen Stadtumbau für einen großen städtebaulichen Gewinn. Er geht gerade nicht auf Kosten der Natur, sondern schützt die Freiflächen durch Nutzung von Brachen und stärkt die umweltfreundlichen Verkehrsmittel. Die Vorstellung, wir könnten ohne solche Veränderungen das erhalten, was uns lieb und teuer ist, teilen wir nicht. Ohne Forschung und Wissenschaft wird uns schon bald das Geld zum Erhalt der Denkmäler fehlen, ohne Kaufkraft und Menschen in der Stadt wird unsere Altstadt veröden. Ohne klimafreundliche Verkehrsmittel wird Mobilität zum Luxusgut oder zur Sünde an der Natur. All die von Ihnen im Grundsatz kritisierten Entwicklungen schaden unserer Heimat in unserem Verständnis nicht, sie sind vielmehr die Voraussetzung für deren Erhalt.“

Palmer, Soehlke und Harsch gehen noch weiter: „Die eigentliche Stadtzerstörung hat nicht die Bahn, sondern das Auto über uns gebracht. Die B28-Brücke hat die verbliebenen Alleen zerteilt und von der Stadt abgetrennt. Die schwärende Wunde des Autobahnkreuzes in der Weststadt erinnert an fast 100 abgerissene Häuser. Der Schnarrenberg-Auffahrt fiel der König zum Opfer, die vierspurige Asphaltwüste zu den Kliniken und am Sand vorbei nach WHO ist ein Dokument einer Zeit, die ohne Rücksicht auf Mensch und Natur dem Auto Platz gemacht hat. Die Neckarbrücke, aber auch die Mühlstraße und besonders die Wilhelmstraße sind zu vielen Zeiten einfach nur lärmende Blechlawinen, hinter denen die historische Fassade weitgehend verschwindet. Das alles soll die Heimat sein, die wir schützen wollen?“ Die Regionalstadtbahn würde das Auto wieder zurückdrängen. „Die Wunden der autogerechten Stadt würden geheilt, das Stadtbild aufgewertet.“ Einige Kritikpunkte an der Stadtbahntrasse bezögen sich auf alte Planungsstände, etwa bei der Neuen Aula. „Ebenso ungerecht und falsch ist der Vergleich mit der Stuttgarter Stadtbahn. Diese ist eine Hochbahn mit 94 Zentimeter hohen Bahnsteigen. In der Tat eine städtebauliche Fehlentscheidung ersten Ranges. Die Bahnsteige der Regionalstadtbahn sind mit 55 Zentimeter wesentlich niedriger.“

Mit einem Angebot endet der Brief: „Lassen Sie uns mit einer Hoffnung schließen: So wie OB Hermann Hauser nach dem erbitterten Streit um die Ammertalbahn schon wenige Jahre später die Vertreter des Heimatschutzes versöhnt im Rathaus empfangen durfte, würden wir gerne mit Ihnen gemeinsam nach Lösungen suchen, die dem Schutz unserer Heimat wirklich dienen.“

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Erstellt:
03.08.2021, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 45sec
zuletzt aktualisiert: 03.08.2021, 01:00 Uhr

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