Betreuung

„Unbeschwerter Kita-Alltag schier unmöglich“

Eine Umfrage unter Kita-Leitungen offenbart eklatante Personalengpässe, auch Elternvertreter und die Wirtschaft fordern das Land zum Handeln auf.

14.10.2021

Von ROLAND MUSCHEL

Spielerisch sollen die Kinder in den Kitas lernen. Für die Anleitung fehlt wegen Personalengpässen aber oft die Zeit. Foto: Daniel Naupold/dpa

Spielerisch sollen die Kinder in den Kitas lernen. Für die Anleitung fehlt wegen Personalengpässen aber oft die Zeit. Foto: Daniel Naupold/dpa

Stuttgart. Als Vater kann sich Gerhard Brand von seiner Tochter den Alltag als Erzieherin schildern lassen; sie absolviert gerade eine praxisintegrierte Ausbildung (PIA). Als Landesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) hat Brand aber auch einen guten Gesamtüberblick über die Situation an den 9300 baden-württembergischen Kindergärten und Krippen. Die ist laut einer aktuellen, vom VBE in Auftrag gegebenen Umfrage unter 2200 Kita-Leitungen im Land geprägt von Personalproblemen und ständig wechselnden Corona-Vorschriften. In Kombination, sagte Brand bei der Vorstellung der Ergebnisse, mache das einen „unbeschwerten Kita-Alltag schier unmöglich“. Die Folge: „Die Nerven liegen blank.“

Das größte Problem ist demnach der Mangel an qualifizierten Fachkräften. Neun von zehn Kita-Leitungen gaben an, dass sie in den vergangenen zwölf Monaten zumindest zeitweise so schlecht besetzt waren, dass sie die Aufsichtspflicht nicht garantieren konnten. Knapp jede fünfte Kita konnte in über 40 Prozent der Zeit die gesetzlichen Betreuungsvorgaben nicht einhalten. Bei den Kleinkindern unter drei Jahren sei landesweit eigentlich eine Aufstockung des Personals um 25 Prozent notwendig, bei den Kindern über drei Jahren um 20 Prozent, rechnete Brand hoch. Der eklatante Mangel an Fachkräften führe in der Praxis dazu, dass Personal eingestellt werde, dass noch vor wenigen Jahren „wegen mangelnder Passgenauigkeit nicht eingestellt worden wäre“.

Die tatsächliche Fachkräfte-Kind-Relation in den Kitas weicht laut der Umfrage in den meisten Fällen von der wissenschaftlichen Empfehlung ab, wonach ein Erzieher drei Unter-Dreijährige oder 7,5 Über-Dreijährige betreuen soll. Die Kita-Leitungen gaben an, dass bei den Kleinsten in jeder vierten Kita sechs oder mehr Kinder auf eine Fachkraft kommen, bei den Drei- bis Sechsjährigen muss in knapp 40 Prozent der Kitas eine Fachkraft zwölf oder mehr Kinder betreuen. Die Politik, schimpfte Brand, setze angesichts unerfüllter Aufsichtspflichten die Sicherheit der Kinder aufs Spiel. Zugleich gefährde sie die Gesundheit der Erzieherinnen und Erzieher, die die Missstände auffangen müssten. Die hohe Arbeitsbelastung führe zu einem Anstieg der Krankschreibungen, wie 87 Prozent der Befragten angaben.

Die Liste der VBE-Forderungen ist daher lang, ganz oben steht der Ruf nach „Sofortmaßnahmen“ zur Beseitigung des Personalmangels. Brand mahnte außerdem eine landesweite Fachkräfteoffensive, Erleichterungen für die Arbeit der Kita-Leitungen, eine bessere Bezahlung aller Erzieherinnen und Erzieher, die Einführung einer grundsätzlich vergüteten Ausbildung an – und „nachvollziehbare“ Corona-Vorgaben.

Unabhängig von der Umfrage verlangen auch die Landeselternvertretung und der Deutsche Kitaverband mehr Engagement im Kampf gegen den Fachkräftemangel. In einem gemeinsamen Positionspapier fordern sie etwa dazu auf, mehr auf multiprofessionelle Teams zu setzen und für alle Berufsgruppen „motivierende“ finanzielle und Karriere-Anreize zu schaffen. Um den weiteren Ausbau von Kita-Plätzen zu stemmen, drängen Elternvertreter und Kitaverband Land und Bund, mehr Geld in die Hand zu nehmen. Die Landesregierung solle ein eigenes Investitionsprogramm für die Träger auflegen, der Bund seine Investitionsmittel für den Kita-Ausbau über das Jahr 2021 hinaus verstetigen.

„Erneutes Alarmsignal“

Auch die Wirtschaft sieht die Politik gefordert. Die VBE-Studie sei ein „erneutes Alarmsignal, das den dringenden politischen Handlungsbedarf aufzeigt“, mahnte der Dachverband Unternehmer Baden-Württemberg (UBW). Den bestreitet Kultus-Staatssekretär Volker Schebesta (CDU) gar nicht erst. Den Aspekt des Personalbedarfs gehe man aber bereits „mit Nachdruck“ und gezielten Investitionen an, versuchte er den Blick auf Erreichtes zu lenken. So habe man seit 2008/2009 die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die eine Erzieherausbildung an einer Fachschule für Pädagogik beginnen, fast verdoppeln können.

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Erstellt:
14.10.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 44sec
zuletzt aktualisiert: 14.10.2021, 06:00 Uhr

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