Tübingen · Coronavirus

Umgang mit dem Virus: Offener Brief des OB an den Gemeinderat

Zu den aktuellen Maßnahmen und Entscheidungen der Stadtverwaltung hat sich Oberbürgermeister Boris Palmer am Donnerstag per E-Mail an die Mitglieder des Tübinger Gemeinderats gewandt.

13.03.2020

Von ST

Der Brief vom Abend des 12. März im Wortlaut:

Sehr geehrte Damen und Herren Gemeinderäte,

Die WHO hat am 11. März die Ausbreitung des Corona-Virus offiziell als Pandemie eingestuft. Innerhalb weniger Tage hat sich die Risikolage auch in Deutschland stark verändert. Die Ausbreitung folgt derzeit in vielen Ländern einem exponentiellen Wachstumspfad mit einer Verdopplung der Zahl der Infektionen in weniger als einer Woche.

In einer solchen Situation müssen viele Entscheidungen in sehr kurzer Zeit getroffen werden. Dies kann naturgemäß im Regelfall nur durch die Exekutive erfolgen. Ich möchte Sie daher darüber in Kenntnis setzen, nach welchen Maßstäben und Grundsätzen die Verwaltung handelt und einen Überblick der bisher ergriffenen Maßnahmen geben. Erlauben Sie mir bitte, die allgemeinen Überlegungen voranzustellen und etwas ausführlicher zu begründen.

Der schwedische Arzt Hans Rosling beschreibt in seinem Buch „Factfulness“ wie er in den 80er Jahren in Mosambik mit einer größeren Zahl von Todesfällen unbekannter Ursache konfrontiert war und dem Bürgermeister ohne weitere Überlegung empfahl, Straßensperren zu errichten, um die Ausbreitung der unbekannten Krankheit zu verhindern. Am nächsten Abend fand Rosling rund 20 tote Frauen und Kinder am Ufer des nahe gelegen Sees. Es stellte sich heraus, dass die Menschen, die zum Überleben darauf angewiesen waren, ihre Waren auf dem Markt zu verkaufen, wegen der Straßensperre nicht den Bus, sondern Fischerboote als Transportmittel ausgewählt hatten. Die überladenen Boote kenterten und Frauen und Kinder, die nicht schwimmen konnten, ertranken. Die unbekannte Krankheit erwies sich kurz darauf als eine Form der Lebensmittelvergiftung, die Sorge vor einer Ansteckung, der Grund für die Straßensperre, war also unnötig. Rosling schreibt: „Ich konnte kaum fassen, was ich angerichtet hatte. Warum hatte ich zum Bürgermeister gesagt ‚Sie müssen etwas unternehmen‘.“

Ich stelle diese reale Geschichte voran, weil wir in der Verwaltung aktuell mit immer mehr Forderungen konfrontiert sind, etwas zu unternehmen. Und weil Roslings Buch uns sehr eindrücklich vor Augen führt, dass wir gerade in Krisenzeiten nicht unseren „dramatischen Instinkten“ folgen sollten, namentlich den Instinkten der „Dringlichkeit“, der „Angst“ und der „Schuldzuweisung“, sondern sorgfältig und ruhig überlegen müssen, welche Daten wir zur Verfügung haben, was sie bedeuten, welche Optionen uns zur Verfügung stehen und welche Risiken dem Nutzen jeder Maßnahme gegenüberstehen. Einfach nur „etwas“ unternehmen, kann fatale Folgen haben.

Die Stadtverwaltung muss derzeit täglich eine Vielzahl von Entscheidungen treffen, bei denen wir stets eine Abwägung zwischen dem Risiko und dem Nutzen einer Maßnahme vornehmen. Tübingen ist dabei in einer besonderen Situation, weil von den rund 45.000 Beschäftigten in der Stadt etwa ein Drittel im Gesundheitsbereich tätig sind, vorrangig an den Kliniken, aber auch in der Medizintechnik (Erbe) oder der Impfstoffentwicklung (Curevac). Selbst Firmen, die bisher in anderen Sektoren tätig waren, können als Zulieferer relevant sein oder wie jetzt die CHT wichtig werden, um Desinfektionsmittel herzustellen. Bei allen Maßnahmen, die dazu dienen sollen, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen ist daher darauf zu achten, dass insbesondere die Leistungsfähigkeit des medizinischen Sektors möglichst nicht beeinträchtigt wird. Die Stadtverwaltung steht deshalb in engem Austausch mit dem Universitätsklinikum.

Die zahlreicher werdenden Forderungen, die Schulen und die Kitas generell zu schließen, müssen daher für Tübingen ganz besonders kritisch überprüft werden. In Kitas und Grundschulen werden derzeit über 7000 Kinder betreut. Wenn diese Einrichtungen schließen, können tausende von Eltern nicht mehr zur Arbeit oder müssen die Kinder zu den Großeltern bringen. Im einen Fall fügen wir dem Gesundheitssystem in Tübingen erheblichen Schaden zu, im anderen Fall bringen wir die Großeltern in Gefahr. Denn Menschen über 65 sind die Hauptrisikogruppe. Kindern hingegen kann das Virus nach heutigem Stand so gut wie nichts anhaben.

Die Stadtverwaltung wird daher bis auf weiteres keine generellen Schließungen anordnen, wie dies mit der Stadt Halle schon eine erste deutsche Großstadt verfügt hat. Da nun erste Fälle von Coronainfektionen bei Schülern auftreten und es auch nur eine Frage der Zeit ist, bis Kitas betroffen sind, planen wir vorerst durch Quarantäne der unmittelbar betroffenen Gruppen zu reagieren. Selbstverständlich stehen wir dabei im Austausch mit dem Gesundheitsamt und passen die Strategie an, wenn dies erforderlich ist. Das gilt auch für den Bereich der Altenhilfe. Hier sind alle Veranstaltungen mit Externen bereits abgesagt. Die Angehörigen sollen schriftlich über das Risiko von Besuchen informiert und gebeten werden, eigenverantwortlich zu prüfen, ob sie zum Schutz der Heimbewohner den Kontakt vorerst einschränken. Von einem Zutrittsverbot sehen wir derzeit ab.

Für die übrigen Bereiche der Stadtverwaltung ist zwischen den Aufgaben zu unterscheiden, die als kritisch für die Aufrechterhaltung von Versorgung, Sicherheit und Ordnung anzusehen sind, und den Bereichen, die keine kritischen Aufgaben erfüllen. Bei Feuerwehr, Stadtwerken oder Ordnungsdienst achten wir darauf, dass es zu keinen größeren Versammlungen kommt, die dazu führen könnten, dass große Teile des Personals sich gleichzeitig infizieren oder in Quarantäne geschickt werden müssen. In den anderen Bereichen sind Versammlungen der Abteilungen und Besprechungen weniger kritisch und können weiterhin durchgeführt werden.

Generell empfiehlt die Verwaltung den Beschäftigten, die Möglichkeit des Home Office zu nutzen, wo dies möglich ist. Die Voraussetzungen dafür wurden unbürokratisch gelockert. Die bislang rund 200 Home Office-Zugänge werden kurzfristig auf 500 ausgebaut. Die dafür notwendigen Maßnahmen benötigen etwa zwei Wochen Vorlauf und wurden bereits beauftragt. In den Bereichen, in denen Home Office nicht möglich ist, wägen wir zwischen der wahrscheinlichen Wirkung auf die Ausbreitung des Virus und den Folgen ab, die zu gewärtigen wären, wenn wir den Betrieb nicht aufrecht erhalten könnten. Vorläufig bedeutet dies, dass wir nur Beschäftigte, die Kontakt zu positiv getesteten Personen hatten oder nach einem Aufenthalt in einem Risikogebiet Symptome zeigen, vom Arbeitsplatz fern halten.Dienstreisen in Risikogebiete finden nicht statt. Stand heute gibt es noch keinen nachgewiesenen Infektionsfall bei der Stadtverwaltung und den Tochtergesellschaften.

Den öffentlichen Nahverkehr, der alltäglich 60.000 Menschen in Tübingen transportiert, zählt die Stadtverwaltung einerseits zur kritischen Infrastruktur, andererseits schon aufgrund der Nähe der Menschen in den Bussen und der schieren Zahl der Beförderten auch zu einem kritischen Teil des Ausbreitungspfads. Die Einstellung des Busverkehrs hätte derzeit noch die größeren Konsequenzen auf die Leistungsfähigkeit der Institutionen und Betriebe in der Stadt. Die Verwaltung wird aber dazu aufrufen, dass alle Personen, die leichte Anzeichen eines grippalen Infekts haben, die Busse nicht mehr nutzen. Entsprechende Hinweise werden auch in den Bussen angebracht. Um Risikopersonen zu schützen, prüfen die Stadtwerke die Einrichtung eines SAM-Angebotes für die Inhaber von Senioren-Abo-Karten, so dass diese mobil bleiben ohne sich dem Risiko einer Infektion durch engen Kontakt mit vielen anderen Menschen auszusetzen. Angesichts das nahenden Frühlings ist für sportlich Aktive ein Umstieg vom Bus auf das Fahrrad empfehlenswert. Das könnte helfen, die Personendichte in den Bussen zu reduzieren.

Einen differenzierten Umgang empfiehlt die Stadtverwaltung auch für Veranstaltungen. Die Absage aller Veranstaltungen in Gebäuden über 1000 Personen ist mittlerweile verpflichtend geregelt. Für Veranstaltungen im Freien, zum Beispiel den von mehr als 1000 Personen besuchten Wochenmarkt, sieht die Verwaltung derzeit keine Notwendigkeit eines Verbots. Die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) zur Durchführung von Veranstaltungen sehen die Möglichkeit der Belüftung und der Personendichte als wesentliches Kriterium. Dies erlaubt die Durchführung von Veranstaltungen im Freien, soweit nicht mit großen Massen oder dichtem Gedränge zu rechnen ist.

Für Veranstaltungen in Gebäuden unter 1000 Personen gilt, dass entsprechend den Empfehlungen des RKI eine Risikobeurteilung voran zu stellen ist. Es ist darauf zu achten, dass ausreichende Belüftung und ausreichend Abstand eingehalten werden können. Dies kann durch eine Reduktion der Teilnehmerzahl in Abhängigkeit von der Größe des Raumes erreicht werden. So ist es zum Beispiel sinnvoll, nur jeden zweiten vorhandenen Sitzplatz zu belegen, so dass Personen, die nicht ohnehin im Familienverband leben, Abstand halten können. Alle Menschen, die an sich leichte Symptome einer Grippe spüren, werden dringend aufgefordert, nicht an Veranstaltungen teilzunehmen. Bereits bei der Durchführung der Einwohnerversammlung am 10. März hat die Verwaltung eine Regelung zum Schutz von Risikopersonen eingeführt. Wer an einschlägigen Vorerkrankungen leidet oder über 65 Jahre alt ist, wird zum eigenen Schutz gebeten, nicht an größeren Versammlungen teil zu nehmen. Gleich lautende Empfehlungen sind zum Beispiel mit der Kunsthalle oder dem LTT abgesprochen.

Diese differenzierte Betrachtungsweise ist aus Sicht der Verwaltung schlüssiger als eine weitere Absenkung der Personengrenze oder gar der Einschluss des Verbots von Veranstaltungen im Freien durch eine lokale Allgemeinverfügung. Eine solche Maßnahme würde dem Kriterium der Konsistenz nicht mehr entsprechen, weil derart rigide Einschränkungen gesamtgellschaftlich nicht lange durchzuhalten wären und massive Konsequenzen nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für Sicherheit, Ordnung, Versorgung und Gesundheitssystem hätten. Die Verwaltung wird daher die vom Land vorgegebenen Regeln nicht eigenmächtig verschärfen. Die Stadt ist in engem Austausch über all diese Fragen mit dem in Gesundheitsfragen primär zuständigen Landratsamt.

Die selbstverständliche Verbesserung von Hygienemaßnahmen hat die Verwaltung bereits vor längerer Zeit eingeleitet. Der Gesundheitsschutz hat schon zu Beginn der Grippesaison durch Plakate aufgefordert, das Schütteln der Hände zu unterlassen. Reinigungsintervalle wurden angepasst, Desinfektionsmöglichkeiten verbessert und die Verfügbarkeit von ausreichend Seife an allen Handwaschgelegenheiten sicher gestellt.

Die bisher von der Verwaltung eingeleiteten Maßnahmen werden Kosten im sechsstelligen Bereich verursachen. Die Finanzierung muss entweder über den noch zu beschließenden Haushalt oder falls dies zeitlich nicht ausreicht, durch Eilentscheidungen sicher gestellt werden. Ich bitte um Verständnis, dass Eilentscheidungen dieser Art keine Rückkopplung mit dem Gemeinderat gestatten werden.

Bei allen Maßnahmen ist auch darauf zu achten, dass wir insbesondere das Hotel- und Gaststättengewerbe, aber auch nahezu den gesamten Einzelhandel schwer belasten werden. Viele der Betriebe sind klein und inhabergeführt. Das Risiko, dass sie einen massiven Umsatzverlust nicht lange überleben,ist erheblich. Die Verwaltung wird daher auch diese Aspekte in die Abwägungen einstellen und wo möglich und nötig Unterstützung gewähren. Aktuell hat die Verwaltung beispielsweise dem Veranstalter der FdF die Platzmiete zur Hälfte erlassen und zur Hälfte auf ein Jahr gestundet, weil der massive Besucherrückgang die Existenz des mittelständischen Unternehmens in Frage gestellt hat.

Diese Darstellung entspricht dem Stand zum heutigen Tage. Sie kann sich jeden Tag ändern. Weltweit und in der Fachwelt gibt es strittige Diskussionen darüber, welche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus sinnvoll sind und wann die Strategie sich darauf konzentrieren sollte, in erster Linie die Risikopersonen zu schützen. Für diese großen Fragen ist eine mindestens nationale Koordination erforderlich, eigene Lagebeurteilungen können Kommunen dazu nicht anstellen. Die Verwaltung wird bei den ihr zugewiesenen Entscheidungen darauf achten, möglichst korrekte Risikoabwägungen vorzunehmen und diese öffentlich transparent zu machen. Es kommt darauf an, sowohl die Risiken durch das Virus selbst als auch die Risiken einer Überreaktion angemessen zu beachten.

Ich hoffe, ich konnte Ihren Informationsbedarf für den Moment befriedigen. Ich bitte Sie um Vertrauen in unser Handeln und Unterstützung bei den anstehenden Aufgaben.

Mit freundlichen Grüßen

Boris Palmer

Oberbürgermeister

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Erstellt:
13.03.2020, 09:52 Uhr
Lesedauer: ca. 6min 43sec
zuletzt aktualisiert: 13.03.2020, 09:52 Uhr

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