Muss die Menschheitsgeschichte umgeschrieben werden?

Tübinger Paläontologin: Ältester Vormenschen-Fund stammt aus Europa

Paläontologen finden Hinweise, dass sich die Linie von Schimpansen und Menschen bereits vor mehr als 7 Millionen Jahren getrennt hat.

22.05.2017

Von Angelika Bachmann

Mehr als 7 Millionen Jahre alt ist der Unterkiefer, den die Paläontologin Madelaine Böhme gestern den Medien präsentierte. Bild: Metz

Mehr als 7 Millionen Jahre alt ist der Unterkiefer, den die Paläontologin Madelaine Böhme gestern den Medien präsentierte. Bild: Metz

Ein Forscherteam um die Tübinger Paläontologin Madelaine Böhme hat anhand von Fossilfunden – einem Unterkiefer und einem Backenzahn – eine bislang unbekannte Vormenschenart identifiziert: Graecopithecus freybergi. Diese ist mit mehr als sieben Millionen Jahren älter als bisher bekannte Vormenschenarten. Möglicherweise habe sich die Linie von Menschenaffen und Menschen mehrere hunderttausend Jahre früher getrennt als bislang angenommen, sagte Böhme gestern auf einer Pressekonferenz.

Zudem stammen bisherige Funde von Vormenschen aus Ostafrika. „El Graeco“, wie das Tübinger Team den von ihnen entdeckten Vormenschen kurz nennt, lebte dagegen nördlich des Mittelmeers. Der Unterkiefer wurde bereits in den 30er Jahren bei Athen gefunden. Der Backenzahn stammt von einer Grabung 2009 in Bulgarien.

Bislang war die Forschung davon ausgegangen, dass sich die gemeinsame Linie von Menschenaffen und Menschen in Ostafrika trennte, von wo aus Vormenschen dann „out of Africa“ über den Balkan bis nach Europa wanderten. Möglicherweise muss die Geschichte vom Ursprung des Menschen oder von der „Menschwerdung des Affen“, wie es Böhme gestern formulierte, nun umgeschrieben werden. Wenn Vormenschen vor 7 Millionen Jahren im östlichen Mittelmeerraum lebten – trennte sich dann die Menschen-Affen-Linie dort? Und nicht in Afrika?

Zwei wissenschaftliche Arbeiten veröffentlichten Böhme, Professorin am Tübinger Senckenberg Zentrum für menschliche Evolution, Prof. Nikolai Spassov von der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften und ihr 16 Wissenschaftler umfassendes Team gestern. Sie analysieren zum einen die Zahnfunde der Spezies von „El Graeco“. Die Wurzeln dieser Vorbackenzähne sind weitgehend verschmolzen. Das gilt als charakteristisches Merkmal des Menschen im Unterschied zum Menschenaffen, dessen Vorbackenzähne getrennte und divergierende Zahnwurzeln haben.

Zum anderen geht es um die Frage: In welchem Lebensraum hat „El Graeco“ gelebt? Welche klimatischen Bedingungen herrschten damals im östlichen Mittelmeerraum? Die beiden Zahnfunde sind rund 7,2 Millionen Jahre alt. Sie stammen aus dem sogenannten Messinium. An dessen Ende, vor etwa 5,3 Millionen Jahren, war das Mittelmeer komplett ausgetrocknet.

Die Forscher fanden Belege dafür, dass die Sahara bereits vor 7 Millionen Jahren entstanden ist. Sie analysierten die Staubanteile und -Zusammensetzung in den Sedimenten, sowohl am Fundort in Bulgarien als auch in Griechenland. Diese enthielten rote, feinkörnige, salzhaltige Schluffe. Die Wüstenwinde transportierten bereits damals Sahara-Staub bis nach Europa. Und zwar in einem noch viel stärkeren Ausmaß als heute. Die Staubbelastung war zehnmal höher als im heutigen Südeuropa und ist vergleichbar mit der heutigen Situation in der Sahel-Zone.

Das Klima, auch im östlichen Mittelmeerraum, wurde damals viel trockener, die Böden salziger. Es entstand eine Gras- und Baumsavanne. Dazu passen auch die gefundenen Pflanzen- und Tierfossilien der Grabungsstätten in Griechenland und Bulgarien: von Süßgräsern, die typisch sind für Savannen, sowie von Vorfahren der heutigen Giraffen, Gazellen, Antilopen und Nashörnern.

In einem solchen Lebensraum hätte keine Menschenaffenart überlebt, so Böhme. Der neu entstandene Sahara-Gürtel, der sich über Nordafrika und die arabische Halbinsel hinweg erstreckte, bildete zudem einen Riegel, der die dort lebenden Vormenschen von ihren Verwandten in Afrika abschottete. „Für 700000 Jahre war die Passage der Sahara nicht möglich“, sagte Böhme. Diese Barriere in Verbindung mit großflächig veränderten Umweltbedingungen könnte eine zentrale Rolle für die Trennung der menschlichen Stammlinie von der Abstammungslinie der Schimpansen gespielt haben.

Bislang gingen Forscher davon aus, dass die Entstehung des ostafrikanischen Grabensystems mit Gebirgsbildung zur Abschottung und Ablösung einer menschlichen Stammlinie geführt hat („East Side Story“). Demgegenüber nennt Böhme die neue Hypothese „North Side Story“ – weil sie den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Menschen-Linie nördlich des Mittelmeers ansiedelt.

Kommende Publikationen und weitere Grabungen im Vorderen Orient sollen den Lebensraum von El Graeco intensiver beleuchten. Derweil erwartet Böhme zahlreiche Reaktionen aus der Wissenschaftswelt auf die aktuelle Veröffentlichung.

Der Künstler Velizar Simeonovski hat dieses Gemälde nach wissenschaftlichen Vorgaben von Madelaine Böhme und Nikolai Spassov erstellt. Es sei deshalb in vielen Punkten „hyperrealistisch“. Die Perspektive vollzieht den Blick von der Fundstelle El Graecos nach Südosten über die Athener Ebene nach. Hinter dem Baum rechts liegt der Berg, auf dem Millionen Jahre später die Akropolis gebaut werden sollte. Die gemalten Tiere und Pflanzen entsperchen dem, was die Forscher tatsächlich vorgefunden haben: Disteln, Savannen-Gräser sowie die Vorfahren heutiger Giraffen, Nashörnern und Gazellen. „Nur die beiden Herrschaften im Bildvordergrund“ – von denen könne man nicht so genau sagen, wie sie ausgesehen haben, so Böhme. Man hat nicht mehr als Zahnreste ihrer Spezies gefunden. Aus diesen kann man schließen, dass die Artgenossen von El Graeco etwa 40 Kilogramm schwer waren und in ihrer Körpergröße wohl einem Schimpansenmännchen entsprachen. Ob sie aufrecht gingen oder nicht – dazu gibt es keine Hinweise.

Der Künstler Velizar Simeonovski hat dieses Gemälde nach wissenschaftlichen Vorgaben von Madelaine Böhme und Nikolai Spassov erstellt. Es sei deshalb in vielen Punkten „hyperrealistisch“. Die Perspektive vollzieht den Blick von der Fundstelle El Graecos nach Südosten über die Athener Ebene nach. Hinter dem Baum rechts liegt der Berg, auf dem Millionen Jahre später die Akropolis gebaut werden sollte. Die gemalten Tiere und Pflanzen entsperchen dem, was die Forscher tatsächlich vorgefunden haben: Disteln, Savannen-Gräser sowie die Vorfahren heutiger Giraffen, Nashörnern und Gazellen. „Nur die beiden Herrschaften im Bildvordergrund“ – von denen könne man nicht so genau sagen, wie sie ausgesehen haben, so Böhme. Man hat nicht mehr als Zahnreste ihrer Spezies gefunden. Aus diesen kann man schließen, dass die Artgenossen von El Graeco etwa 40 Kilogramm schwer waren und in ihrer Körpergröße wohl einem Schimpansenmännchen entsprachen. Ob sie aufrecht gingen oder nicht – dazu gibt es keine Hinweise.

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Erstellt:
22.05.2017, 20:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 53sec
zuletzt aktualisiert: 22.05.2017, 20:00 Uhr

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4nevergiveup 23.05.201710:13 Uhr

und Ottonormalverbraucher ließt eh nur die Schlagzeilen und meint am Ende, weil er 10mal das gleiche gelesen hat, die Wahrheit in der Tasche zu haben. Eine Lister der "Funde": Heidelbergmann, aufgebaut nach Kieferknochen, der für ziemlich menschlich gehalten wurde...Nebraskamann, wissenschaftlich zusammengesetzt nach einem Zahn, den man später als einem ausgestorbenen Schwein zughörig befand,Pekingmann, 500000Jahre alte, sämtliche Beweisstücke sind verschwunden.Piltdownmann,Kieferknochen sah aus wie von einem modernen Affen..Neandertaler. Dr.A.Cave sagte,dass es ein alter Mann war, der an Gicht gelitten habe...Cro-Magnonmann.Das erste anerkannte Fossil;weist die gleiche Verfassung auf wie der moderne Mensch, was ist also der Unterschied? Einige machten Geld, und andere zum Narren zugleich!

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