Klimaschutz

Tübingen will jetzt noch blauer machen

Der Tübinger Gemeinderat beschloss einstimmig, den Klimaschutz deutlich zu verstärken, um bis zum Jahr 2030 klimaneutral zu sein.

10.07.2019

Von Gernot Stegert

Klimawandel. Symbolbild: Ulrich Metz

Klimawandel. Symbolbild: Ulrich Metz

Tübingen ist europaweit beim Klimaschutz unter seinesgleichen – Städten derselben Größe – Spitze. Das hat der im Herbst in Wien verliehene Preis European Energy Awards in Gold gezeigt. Und doch würde die grün regierte Stadt trotzdem die Ziele des Pariser Klimaabkommens von 2015 erst im Jahr 2045 erreichen. Das sagte der Leiter der Stabsstelle Umwelt- und Klimaschutz Bernd Schott am Montagabend im Gemeinderat. Eine Aussage, die zeigte, wie stark der Handlungsdruck trotz vieler Erfolge ist. Oberbürgermeister Boris Palmer sagte: „Es reicht nicht, wenn der Klassenbeste das Ziel erst 2045 erreicht.“

Entsprechend einig waren sich alle Fraktionen über das Ziel, Tübingen schon bis zum Jahr 2030 klimaneutral zu machen. Dafür soll die Klimaschutzoffensive „Tübingen macht blau“ deutlich ausgebaut werden. Die Verwaltung soll noch in diesem Jahr erste Vorschläge vorlegen. Es war der erste inhaltliche Beschluss des neuen Gemeinderats, er fiel einstimmig. Auch unstrittig war, dass Schott zum Ausarbeiten des Programms eine weitere 100-Prozent-Stelle erhält.

Einstimmig angenommen wurde auch der eher allgemeine Antrag von AL/Grünen, dass sich die Stadt zu den Beschlüssen von Paris bekennt und die Europäische Union, die Bundes- und Landesregierung unterstützt, „indem wir die Einhaltung der vereinbarten Klimaziele als verbindliche Leitlinie unserer Politik anerkennen“.

Mehr Ehrgeiz entwickeln

In der Debatte mahnte Heinrich Schmanns (AL/Grüne) mit einem Exkurs auf die globale Lage zum Handeln. „Wir müssen beim Klimaschutz deutlich mehr Ehrgeiz entwickeln“, sagte Martin Sökler (SPD). „In der Sache sind wir uns alle einig“, stellte Ernst Gumrich (Tübinger Liste) fest. „Wir unterstützen das Vorhaben, das Klimaprogramm weiterzuentwickeln“, erklärte Ulrike Ernemann (CDU). „Wir wollen den Klimaschutz, aber nicht den Kapitalismus retten“, zeigte Gerlinde Strasdeit (Linke) ihre Linie auf. Die soziale Frage müsse immer mitbedacht werden. „Ich will, dass ihr Panik bekommt“, zitierte Sara Gomes („Die Fraktion“) Greta Thunberg, das weltweite Gesicht von „Fridays for Future“ aus Schweden. „Ziele sind gut, Instrumente wichtiger“, mahnte Dietmar Schöning (FDP) Konkretes an. Und Jugendgemeinderat Nikodim Brickwell sagte, es gehe „eigentlich um Selbstverständlichkeiten“: das Einhalten eines von der Bundesregierung ratifizierten Abkommens (Paris) „und um unsere Zukunft“.

Trotz Grundkonsens diskutierten die Stadträte und Stadträtinnen ausführlich. Dabei ging es um Verfahren, Zeitpläne und Instrumente. Alles Strittige wurde anschließend vertagt, damit die Grundsatzbeschlüsse einstimmig fallen konnten.

Vertagt wurde die Entscheidung über eine Befragung per Bürger-App, weil die Standpunkte noch weit auseinander lagen. Palmer machte eingangs deutlich: „Wir können das Klimaziel schaffen. Aber es erfordert Veränderungen im System.“ Appelle an Einzelpersonen würden nicht genügen. Deshalb stand in der Beschlussvorlage der Verwaltung eine „Abstimmung auf der Bürger-App“. AL/Grüne unterstützten dies. Die SPD beantragte einen Bürgerbeteiligungsprozess mit Befragung per App und Prüfung eines Bürgerentscheids. Diesen hielt der OB für rechtlich nicht zulässig, weil die Fragestellung dafür nicht konkret genug sein könne: „Das Programm wird immer neu aktualisiert werden müssen.“ Doch seien exemplarische Maßnahmen abstimmbar, schlug Schöning vor. Die Linke ist grundsätzlich gegen die Bürger-App. Auch „Die Fraktion“ aus Markus Vogt und David Hildner („Die Partei“) sowie Sara Gomes (Demokratie in Bewegung) ist skeptisch. Es können nur ab 16-Jährige mitmachen. „Gerade die, die bei Fridays for Future auf die Straße gegangen sind, werden ausgeschlossen“, kritisierte Gomes.

Klimanotstand ausrufen?

Offen ist auch der Zeitplan. Palmer wollte Beschlüsse im Gemeinderat noch vor der Sommerpause 2020. Die SPD hielt das wegen der Bürgerbeteiligung für nicht sicher leistbar. Eine Vorlage bis in einem Jahr sei möglich, ein Beschluss aber nicht garantierbar.

Gomes beantragte, dass auch Tübingen wie Konstanz und andere Städte den Klimanotstand ausruft: „Beim Klimaschutz gibt es keine Wahl.“ Der Notstand habe eine symbolische und eine reale Komponente. Diese sei ein Klima-Vorbehalt aller Entscheidungen in Verwaltung und Gemeinderat. Gegen diesen wehrte sich der grüne Oberbürgermeister vehement. „Das passt nicht zu Tübingen. Wir müssen nicht erst zum Jagen getragen werden.“ Die Ausrufung des Klimanotstands sei reine Symbolik und führe zu einem „Bürokratismus“. Er wolle die Fachleute lieber am Klimaschutz arbeiten lassen statt Berichte schreiben zu lassen. Schott sagte denn auch: „Das ist nicht leistbar.“ AL/Grüne folgten dem OB. Der Klimanotstand sei nur ein Schlagwort, sagte Heinrich Schmanns. Auch die CDU sieht wegen der bisherigen Aktivitäten von Stadt und OB keinen Anlass dafür. Sökler hielt den Notstand für „nicht nötig“. Schöning bezeichnete die Ausrufung als „Ersatzhandeln“.

Am Ende der Debatte erklärte Hildner, seiner Fraktion sei wichtig, dass in jeder Verwaltungsvorlage die Auswirkungen aufs Klima benannt würden. Das müsse aber kein ausführlicher Text sein, es könnten auch Kreuze in Kästchen „Ja, positiv“, „Ja, negativ“ oder „Nein“ genügen. Mit dem Kompromiss konnte sich Palmer anfreunden.

Die CDU beantragte einen extra Ausschuss zum Klimaschutz. Bisher gibt es drei Ausschüsse: den Ausschuss für Kultur, Bildung, Soziales und Sport, den für Planung (vor allem Verkehr und Bauthemen) und den Verwaltungsausschuss (vor allem Finanzen und Umweltthemen). Die neue CDU-Fraktionsvorsitzende Ernemann hält das Thema für so wichtig, dass ein eigener Ausschuss nötig sei. Auch schaffe dieser Transparenz. Die Tübinger Liste zeigte sich für den CDU-Vorschlag offen. Reinhard von Brunn schlug als Alternative zum vierten Ausschuss eine Splittung im Verwaltungsausschuss vor. Ulrich Narr, Leiter des Fachbereichs Kommunales, sagte, mit einem vierten Ausschuss werde die Terminsuche erschwert. Palmer nannte die Abgrenzung der Ausschüsse bei Verkehrsthemen eine Herausforderung. Beide jedoch wollten den CDU-Vorstoß prüfen.

Auf dem Weg zur Klimaneutralität

Tübingen strebt seit 2007 mit der „Tübinger Klimaschutzoffensive“ (auch bekannt unter dem Slogan „Tübingen macht blau“) die Reduktion der energiebedingten Treibhausgasemissionen (insbesondere Kohlenstoffdioxid; CO2) an. Hierzu gab etliche Beschlüsse des Gemeinderates zu Klimaschutzprogrammen, Einzelmaßnahmen sowie Zielsetzungen. Diese sollen laut Verwaltung in Summe unter anderem eine Reduktion von 40 Prozent CO2 je Einwohner bis 2022 gegenüber 2006 und den Ausbau der Stromerzeugungskapazitäten der Stadtwerke Tübingen auf Basis Erneuerbarer Energieträger auf rund 300 GWh/Jahr bringen. „Die zurückliegenden Zielsetzungen/Teilziele konnten bisher alle erreicht werden.“ Eine klimaneutrale Energieversorgung wäre erreicht, wenn die vom Menschen verursachten CO2-Emissionen aus dem Energieverbrauch durch CO2-Entnahmen (etwa Holzzuwachs) oder Maßnahmen zur CO2-Einsparung außerhalb der Kommune (Kompensationsmaßnahmen) ausgeglichen werden. Wegen dieser Möglichkeit ist der Begriff umstritten.