Corona-Tote

Trauerfeier: „Wir hören Ihren Schmerz“

In einer Gedenkveranstaltung für die Corona-Toten versichert Bundespräsident Steinmeier den Hinterbliebenen, dass sie in ihrem Kummer nicht allein seien und ruft zum Zusammenhalt auf.

19.04.2021

Von THORSTEN KNUF

Ökumenischer Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche für die Verstorbenen der Corona-Pandemie. Foto: Gordon Welters/KNA-POOL/dpa Foto: Gordon Welters/dpa

Ökumenischer Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche für die Verstorbenen der Corona-Pandemie. Foto: Gordon Welters/KNA-POOL/dpa Foto: Gordon Welters/dpa

Berlin. Das Letzte, was Anita Schedel von ihrem Mann hörte, war, dass sie sich keine Sorgen machen solle. Er werde jetzt ins künstliche Koma versetzt, sagte er ihr am Telefon im Krankenhaus. „Ich bin in den besten Händen, Du kannst mich bald wieder abholen. Ich freue mich auf Dich.“

Nach acht Tagen Bangen und Hoffen sagten ihr die Ärzte, dass sie nichts mehr für ihren Mann tun könnten. Sie durfte noch einmal zu ihm auf die Intensivstation. „Bis heute begleiten mich die Bilder von dem einsamen, langen Klinikflur, von den blinkenden und piepsenden Geräten und Schläuchen und Maschinen, und mittendrin – mein Hannes, gezeichnet vom Virus.“ Hannes Schedel, selbst Arzt und Klinikbetreiber aus Passau in Niederbayern, starb am 14. April des vergangenen Jahres an Covid-19. Er wurde 59 Jahre alt.

Am Sonntag steht seine Witwe in Berlin an einem Rednerpult im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Sie schildert, dass sie ihrem sterbenden Mann noch die Hand drücken konnte. Sie sei dem Klinikum dafür sehr dankbar. „Mein Mann hat sein Leben verloren. Ich bin ins Nichts gefallen. Aber ich habe noch ein Leben. Es ist ganz anders als vorher. Es war nicht meine freie Entscheidung.“ Auch Anita Schedel war an Corona erkrankt. Sie überlebte, Hannes Schedel nicht.

Die 57-Jährige spricht an diesem Tag bei der zentralen Gedenkveranstaltung für die Toten in der Corona-Pandemie. Die Spitzen der Verfassungsorgane sind anwesend – Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Kanzlerin Angela Merkel, die Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht. An vielen anderen Orten der Republik wird an diesem Tag in kleineren Veranstaltungen ebenfalls der Toten gedacht.

Rund 80?000 Menschen starben in Deutschland bislang mit dem oder durch das Coronavirus. Etliche weitere, die seit Beginn der Pandemie aus ganz anderen Gründen ihr Leben verloren, mussten einsam sterben – weil ihre Familienmitglieder oder Freunde in den letzten Stunden nicht bei ihnen sein durften.

Um all diese Menschen und die Trauer der Angehörigen geht es an diesem Sonntag in Berlin. Neben Anita Schedel ergreifen drei weitere Betroffene das Wort und schildern, was für ein Mensch ihr verstorbener Angehöriger war und unter welchen Umständen sein Leben endete. Sie tun das stellvertretend für alle Opfer und alle Hinterbliebenen.

Da ist eine Frau mit türkischen Wurzeln, deren Vater einst als Gastarbeiter nach Deutschland kam und mit 67 Jahren dem Virus erlag. Ein Mann berichtet von seiner Mutter, die mit 80 Jahren dement im Pflegheim an Covid-19 starb. Eine junge Frau spricht über ihren lebenslustigen Vater, der mit 53 Jahren im Krankenhaus den Kampf gegen den Blutkrebs verlor – und aufgrund der Pandemie seine Familie nicht noch einmal sehen konnte.

Berührende Veranstaltung

Es ist eine ergreifende Veranstaltung unter Bedingungen der Pandemie. Die Teilnehmer im Konzerthaus tragen Masken und sitzen in einem Oval mit Sicherheitsabstand zueinander. Die Hinterbliebenen durften jeweils noch einen Begleiter mitbringen. Neben den Repräsentanten des Staates ist der Apostolische Nuntius anwesend, außerdem Berlins Regierender Bürgermeister. Zudem sind Musiker des Konzerthausorchesters Berlin im riesigen Saal. Weitere Gäste sind nicht zugelassen. Das Fernsehen überträgt die Veranstaltung.

Die Idee, einen Gedenkakt für die Opfer zu veranstalten, hatte Bundespräsident Steinmeier bereits im vergangenen September vorgebracht. Damals hatte das Land die erste Welle hinter sich und einen recht unbeschwerten Sommer erlebt. Rund zehntausend Corona-Tote gab es bis dahin, viel weniger als in anderen europäischen Ländern. Die Zahl der Neuinfektionen war niedrig. Hierzulande sah so aus, als sei man aus dem Gröbsten raus und könne sich bald wieder anderen Dingen zuwenden.

Das Thema ließ Steinmeier gleichwohl nicht los. Er habe im Herbst zahlreiche beeindruckende Kontakte mit Bürgern gehabt, berichten Mitarbeiter. Unter anderem traf er sich mit Covid-19-Genesenen. Ende 2020 dann rollte die zweite Welle mit voller Wucht übers Land. Es gab bis zu 1000 Todesfälle täglich. Deutschland steckt nun mitten in der dritten Welle. Insofern kann der Staat mit einer Gedenkfeier dieser Art keinen Schlusspunkt setzen. Gleichwohl kam Steinmeier im Laufe der Zeit zur Überzeugung, dass das Land einen Moment des Innehaltens brauche. Einen Moment, der die Verstorbenen und ihre Geschichten in Erinnerung ruft und in dem der Staat den Hinterbliebenen sein Mitgefühl ausdrückt. Und der vielleicht dazu dienen kann, den Zusammenhalt im aufgewühlten Land zu festigen.

Am Sonntag sagt der Bundespräsident: „Seit dem Beginn der Katastrophe blicken wir täglich wie gebannt auf Infektionsraten und Todeszahlen, verfolgen Kurvenverläufe, vergleichen und bewerten.“ Das sei verständlich. Aber sein Eindruck sei, dass sich die Gesellschaft nicht oft genug bewusst mache, dass hinter all den Zahlen Schicksale und Menschen stehen. Ihr Leiden und ihr Sterben seien oft unsichtbar geblieben. „Eine Gesellschaft, die dieses Leid verdrängt, wird als ganze Schaden nehmen.“

Die Verstorbenen fehlten, sagt Steinmeier. „Sie alle kommen nicht zurück – aber sie bleiben in unserer Erinnerung. Wir vergessen sie nicht.“ In Richtung aller Hinterbliebenen sagt der Präsident: „Es gibt keine Worte für Ihren Schmerz. Aber wir hören Ihre Klage. Wir verstehen Ihre Bitterkeit.“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Gedenkfeier. Foto: Michael Sohn/dpa

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Gedenkfeier. Foto: Michael Sohn/dpa

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Erstellt:
19.04.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 36sec
zuletzt aktualisiert: 19.04.2021, 06:00 Uhr

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