91 Meter unter dem Meer

Tim Oehmigen aus Starzach-Felldorf hält den deutschen Rekord im Freitauchen

Aufgewachsen ist er in Felldorf, unweit des Neckars. Tim Oehmigens Sehnsucht gilt jedoch nicht den seichten Flüssen, sondern den tiefen Meeren dieser Welt. Als Apnoe-Taucher sucht der 27-Jährige den Kick und jagt jetzt auch die Rekorde der ganz Großen.

10.08.2016

Von Lorenzo Zimmer

Felldorf. Ein Piepsen klingt schrill durch die Redaktionsflure. Nicht etwa das erinnerende Piepsen des Küchenweckers, der die Pizza vor dem Verbrennen rettet. Oder der zufriedene Ton eines Smartphones, wenn ein Pokemon gefangen wurde. Es ist ein Warnton. Einer, wie man ihn aus dem Krankenhaus kennt. Er mahnt: Puls und Sauerstoffsättigung sind gefährlich niedrig. Tim Oehmigen gibt wie vereinbart das Zeichen. Zur Demonstration hat er binnen weniger Sekunden seinen Puls von 60 auf 39 Schläge in der Minute eingebremst. Die Sauerstoffsättigung in seinem Blut sank von 99 auf 94 Prozent. Jetzt spürt er ihn. Den Tauchreflex. Er lässt den Stickstoff aus der Lunge, atmet tief ein.

Wenn der Körper auf Notfall umschaltet

Oehmigen ist 27 Jahre alt und Newcomer der Wettkampfszene im Freitauchen. Sein Tauchreflex ist trainiert. Sein Körper ist es gewohnt, wenn sich die Blutgefäße in allen Extremitäten verengen. Wenn sie auf Notversorgung umschalten und sich dafür die Gefäße zum und vom Gehirn weiten. Sein Körper ist dann im Überlebensmodus, sorgt für Blutzufuhr zur Schaltzentrale.

Mitte Juni hat Oehmigen diesen Effekt genutzt, um auf den Philippinen einen deutschen Rekord im Freitauchen aufzustellen: 91 Meter tief. Vor wenigen Tagen folgte ein zweiter Landesrekord in einer leicht abgewandelten Disziplin. Oehmigen klopft an die Tür der Weltspitze im Tauchen, fährt im September mit zwei weiteren Freedivern als deutscher Vetreter zu den Team-Weltmeisterschaften im griechischen Kalamata.

Begonnen hat es für den Felldorfer in Thailand. Als Urlauber machte er einen Geräte-Tauchkurs, entdeckte seine Passion für die Tiefe: „Es hat mich sofort gereizt, weiter nach unten zu kommen.“ Sein Tauchlehrer riet vom Freitauchen ab: „Der Sport gilt zu Unrecht als sehr gefährlich“, sagt Oehmigen. 2012 folgte er zunehmend dem Ruf der Tiefe, lernte im Bodensee das Freediving, wie freies Tieftauchen in der Szene heißt. „Ich bin eigentlich kein besonders risikofreudiger Mensch“, fügt Oehmigen hinzu.

Aus seiner Sicht sind Sportarten wie Reiten oder Snowboardfahren viel gefährlicher als seine geliebten Ausflüge in das dunkle Blau der Meere: „Wenn man richtig vorbereitet ist und alle Sicherheitsaspekte beachtet, kann eigentlich nichts schiefgehen“, sagt er. Der studierte Finanzökonom hat eine Seminararbeit über Risikomanagment beim Tauchsport geschrieben: „Klar, wenn mir bei 40 Metern eine Würfelqualle begegnet und mich im Gesicht trifft, ist es halt rum.“ Das rein sportliche Risiko könne er kalkulieren, sagt er. „Wenn ich den Spot nicht kenne oder alleine losziehe, bin ich selber schuld.“

Bereits zwei Tage vor einem Wettkampf beginnt für Oehmigen die Konzentrationsphase. Besonders wichtig werden dann die Visualisierungen. Der Taucher übt den Ernstfall, führt im Trockenen alle Bewegungen aus, die zum Wettkampf gehören. Mit Nasenklammer steht er dann in seinem Zimmer, ganz in Neopren gekleidet. „Beim Wettbewerb muss der Autopilot angehen“, sagt Oehmigen.

Die Uhr und der Plastikstreifen – genannt „Tag“ – in Tim Oehmigens Mund sind der Beweis: Dieser Mann war auf Panglao in 91 Metern Tiefe. Ohne Flossen, nur mit einem Seil, an dem er sich entlang ziehen konnte. Er hält damit seit Juni den deutschen Nationalrekord – und fährt mit zwei Teamkollegen zur WM nach Griechenland.Privatbilder

Die Uhr und der Plastikstreifen – genannt „Tag“ – in Tim Oehmigens Mund sind der Beweis: Dieser Mann war auf Panglao in 91 Metern Tiefe. Ohne Flossen, nur mit einem Seil, an dem er sich entlang ziehen konnte. Er hält damit seit Juni den deutschen Nationalrekord – und fährt mit zwei Teamkollegen zur WM nach Griechenland.Privatbilder

Auf Knopfdruck muss er abtauchen. Ohne Vorbereitung und den richtigen Lebensstil geht das nicht. Wie jeder Extremsportler muss auch Oehmigen darauf achten, sich fit zu halten, aber dennoch nicht zu viel zu trainieren. „Man muss außerdem sehr auf seine Ernährung achten“, sagt er. Früchte, Gemüse, Antioxidantien. Letztere – etwa in Rotwein in großer Zahl enthalten – sorgen für eine schnelle Regeneration nach langen luftarmen Phasen. Sie bekämpfen die durch Sauerstoffmangel enstandenen freien Radikale im Körper.

Lange glaubten Ärze, die Lunge würde implodieren, wenn ein Mensch tiefer als 40 Meter taucht. Hinzu kommt der betäubende Effekt des Stickstoffs aus der verbrauchten Luft. Der Taucher muss mit einem Druckausgleich gegensteuern. Oehmigen verwendet dafür die Frenzel-Technik – nach einem Piloten im Zweiten Weltkrieg benannt. Dafür drückt Oehmigen mit der Zunge stark gegen den oberen Gaumen und schließt dabei die Kehle. Der Druck sucht seinen Ausweg durch die Eustachi-Röhre. Seine Augen hält Oehmigen beim Tauchgang meistens geschlossen. „Mein rechtes Auge verliert beim Frenzel-Ausgleich Luft“, erklärt er lachend.

Irgendwann ist alles nur noch blau

Ist die Grenze bei 40 Metern überwunden, nimmt Oehmigen um sich herum nur noch Blau wahr: „Irgendwann setzt der freie Fall ein.“ Er ist dann so tief, dass ihn sein Körperfett nicht mehr stärker nach oben zieht, als ihn der Druck nach unten drückt. „Das nutzt man, um schneller nach unten zu kommen.“ Das ist der Moment, der für viele Taucher den Kick ausmacht. Für sie ist es das Schönste am Sport. Oehmigen geht es ähnlich: „Das mag ich sehr.“

Unten angekommen, muss der Felldorfer die Panik unterdrücken. „Der meditative Zuistand des Abstiegs hört auf.“ Der Taucher kommt zu sich und muss ein mit Klettverschluss am Seil befestigtes Plastikteil, den sogenannten „Tag“, abreißen und mitnehmen. Er dient oben – neben der vom Tauchverband Aida geeichten Tiefenuhr – als Beweis für die erbrachte Leistung.

Auch für das Auftauchen gibt es Wettkampfregeln. Sie sehen vor, dass der Taucher den Nasenclip abnimmt und laut und vernehmlich „I am okay“ sagt. Oehmigen ist das bereits zwei Mal nicht gelungen. Videoaufnahmen zeigen ihn nach einem Tauchgang auf 60 Meter: Bleich schwimmt er im Wasser, zittert am ganzen Körper. Die Szene erinnert an den Beginn eines epileptischen Anfalls; dann kommt Oehmigen mit dem Mund unter die Wasseroberfläche. Ein Regelverstoß. Sofort wird er von umschwimmenden Begleitern gepackt: „Da war die Hypoxie so stark, dass ich gar nichts mehr konnte (Hypoxie: Sauerstoffmangel im Körpergewebe, d. Red)“, sagt er. „Wenige Sekunden danach war ich wieder bei mir“, fügt er hinzu.

Nach der Team-Weltmeisterschaft im September will Oehmigen der erste Deutsche werden, der frei tauchend die 100-Meter-Marke knackt. In seiner Hauptdisziplin – free emersion, also ohne Flossen und andere Hilfsmittel, nur entlang eines Seils – gibt es weltweit etwa zehn Taucher, die dreistellige Tiefen packen. Oehmigen reizt dabei vor allem die Herausforderung. Die Herausforderung, im richtigen Moment voll konzentriert zu sein und den Autopiloten anzukriegen. Bis der freie Fall einsetzt und er sich der Trance hingeben kann. Wenn sich die einen Gefäße verengen und andere weiten. Wenn er ihn spürt: den Rausch der Tiefe.