Atemberaubende Wende

Tennis: Kerber und Görges im Halbfinale von Wimbledon

Angelique Kerber und Julia Görges überraschen mit dem Halbfinaleinzug in Wimbledon nicht nur sich selbst. Dank der neu gewonnenen Stabilität ist jetzt alles möglich.

12.07.2018

Von JÖRG ALLMEROTH

Angelique Kerber. Foto: John Walton/PA Wire/dpa

Angelique Kerber. Foto: John Walton/PA Wire/dpa

London. Auf der Terrasse des Internationalen Pressezentrums hatte Julia Görges auch beim zehnten Interview noch nicht das Lächeln verloren. Geschliffen wie immer beantwortete die frischgebackene Wimbledon-Halbfinalistin die Fragen der TV-Anstalten aus aller Welt, mühelos wechselte die eloquente Brünette zwischen Deutsch und Englisch hin und her. Görges genoss die Aufmerksamkeit, warum auch nicht: Schließlich stand dieser Tag, dieser 10. Juli 2018, wie kein anderer für die atemraubende Kehrtwende ihrer Karriere. Wimbledon, einst ein verfluchter, verhexter Ort für Görges, war auf einmal zum Sinnbild für den sportlichen Aufschwung geworden: „Ich habe mir selbst eine neue Chance im Tennis gegeben. Auch und gerade hier“, sagte Görges irgendwann im Licht der langsam sinkenden Sonne.

Sie war nicht die einzige deutsche Siegerin an diesem Tag, der so speziell in Wimbledon war wie nur wenige andere in diesem neuen Jahrhundert. Schon bevor Görges mit ihrem Drei-Satz-Comeback gegen Freundin Kiki Bertens in ein neues Tennis-Universum vorgestoßen war, in ein Halbfinal-Rendezvous mit Wuchtbrumme Serena Williams, hatte auch Angelique Kerber das Ticket für den Klub der letzten Vier gelöst. Und zwar so souverän, so konsequent, so von sich selbst überzeugt wie in ihrer Galasaison 2016. „Ich bin wieder da, wo ich war“, sagte die 30-jährige Kielerin später trocken, die nun auf die Lettin Jelena Ostapenko trifft.

Julia Goerges. Foto: Oli Scarff/afp

Julia Goerges. Foto: Oli Scarff/afp

Nach einer Achterbahnfahrt auf den Spiel-Plätzen des Wanderzirkus ist sie wieder eine stabile Größe, vor allem, dort wo es wirklich zählt im globalen Tennisbetrieb – auf den Grand Slam-Feldern. Und ganz besonders in Wimbledon, im Theater der Träume. Vor zwei Jahren verlor sie hier erst im Finale gegen eine kaum zu bremsende Serena Williams. Nun aber ist Kerber die eigentliche Favoritin für den Höchstpreis.

Kann es am Ende dieser 2018er-Auflage der Offenen Englischen Meisterschaften wirklich sein, dass schon heute feststeht, dass es eine deutsche Siegerin gibt? Es ist eine faszinierende Option, eine Einmaligkeit in der modernen Tennisära – eine Chance, die es selbst in den noch viel größeren deutschen Zeiten in den 80er- und 90er-Jahren nicht gab.

Dabei hat Wimbledon auch Kerbers und Görges' Laufbahn in den letzten Jahren wesentlich geprägt. Aus den bitteren Enttäuschungen in London erwuchs so tiefe Frustration, dass beide Nordlichter eine radikale Neupositionierung vornahmen. Alles wurde in Frage gestellt, fast alles wurde verändert – immer unter dem Motto: Raus aus den eingefahrenen Wegen.

Zurück in der Weltspitze

Kerber wollte sogar mit dem Tennis aufhören, als sie 2011 in Wimbledon in der ersten Runde eine Schlappe gegen die Britin Laura Robson kassierte. Zunächst half ihr Freundin Andrea Petkovic aus dem Tief heraus, dann half sich Kerber selbst: Sie wurde drahtiger, fitter, schlanker, stürmte mit einem neuen Körpergefühl in die Weltspitze, an die Weltspitze – und auch zu zwei Grand Slam-Triumphen. In Wimbledon gehört sie inzwischen zum Establishment, 2018 könnte das Jahr sein, in dem sie auch noch den letzten Schritt geht, den auf den Thron im All England Club.

Und Görges? Als sie vor knapp zwei Wochen in Wimbledon ankam, hatte sie in all den Jahren zuvor gerade mal fünf Turniere gewonnen. Wimbledon war ein Horror-Ort, ein Schreckgespenst für die Bad Oldesloerin, die inzwischen mit ihrem Freund und Physiotherapeuten Florian Zitzelsberger in Regensburg lebt und arbeitet. Görges war zwar 2011 mit ihrem Sieg in Stuttgart als erste Spielerin dieser Generation strahlend in die Schlagzeilen getreten, aber ihre Geschichte danach war eine Geschichte der verpassten Chancen. Sie war das, was man im Englischen eine Underperformerin nennt, eine, die zu wenig aus ihren Möglichkeiten macht. „Ich war einfach unzufrieden mit meinem ganzen Status Quo damals“, sagt Görges, „ich wusste, dass ich mehr Potenzial habe.“

Die große Wende kam dann erst, als sich Görges auch wegen der Wimbledon-Ernüchterungen komplett umorientierte, nach Bayern zog und dort auch in Coach Michael Geserer einen kongenialen, unaufgeregten Partner fand. Als Görges am Dienstagabend gefragt wurde, was das wichtigste Produkt und Ergebnis dieser Kooperation sei, sagte sie: „Meine Positivität. Der zuversichtliche Blick auf das Leben, auf meinen Beruf.“ So konnte Görges auch, ungerührt von der Vorgeschichte ihres schier ewigen Scheiterns, nun zum großen Schlag ausholen – zum Vorstoß in bisher unentdecktes Terrain.