Taschen mit Gefühl

Taschen Taolili Carmen Bleile macht Erinnerungen zum Mitnehmen: Die Reutlingerin näht Taschen aus ausrangierten Lieblingskleidern.

13.05.2016

Von TEXT: Kathrin Löffler|FOTOS: Horst HAAS

Das ist kein Sportgerät (mehr): Mit genügend Seidenstoff werden in Carmen Bleiles Händen auch mal Hula-Hoop-Reifen zu Handtaschen.

Das ist kein Sportgerät (mehr): Mit genügend Seidenstoff werden in Carmen Bleiles Händen auch mal Hula-Hoop-Reifen zu Handtaschen.

Berlin 2013, Fashion Week, roter Teppich. Micaela Schäfer stöckelt durch die Posierzone. Die Fotografen hämmern Stroboskopblitze aus ihren Kameras. Schäfer firmiert unter der Berufsbezeichnung „Erotikmodel“. Ihr Mitwirken an den TV-Formaten „Germany’s next Topmodel“ und „Ich bin ein Star, holt mich hier raus“ bescherte ihr einen mittelmäßigen Bekanntheitsgrad. Um ihr Popularitätslevel zu halten, absolviert sie fleißig öffentliche Auftritte mit sehr wenig Garderobe am Leib. Auf der Modewoche trägt sie aber Stoff in maximal extraordinärer Ausführung: eine Handtasche in Schultütenform, rosa Steppfutter, mit Berliner Bär drauf. Made in Baden-Württemberg.

Reutlingen 2016, ein Haus in der Stadtmitte, knarzende Treppen: Hier hat Carmen Bleile ihr Atelier. Unter ihrem Label „taschen taolili“ stellt sie unkonventionelle Tragebehältnisse her. Unkonventionell deshalb: Bleile näht Taschen nicht aus fabrikfrischen Premiumstoffen. Bleile näht Taschen aus gebrauchten Kleidungsstücken. Vor gut drei Jahren bekam RTL davon Wind. Der Fernsehsender ließ die Reutlingerin in seinem Mittagsmagazin „Punkt 12“ auftreten und etwas für die Prominenz entwerfen: Die Schäfer opferte T-Shirt und Schal, Bleile schneiderte ihr die besagte Schultüte. „Für so ein Erotikmodel kann ich ja keine 0815-Tasche machen“, sagt die Designerin.

Im Taschenmacheralltag geht es unglamouröser zu. Spannend aber wohl. Den Stoff für tolle Geschichten liefert da die gar nicht so berühmte Kundschaft – im Wortsinn. Ein Mann etwa kam mit dem T-Shirt an, in dem er seine Freundin kennenlernte. Daraus nähte ihm Bleile eine Tasche, die er der Auserwählten zur Hochzeit schenkte. Und eine Frau präsentierte der Taschenmacherin „eine supertolle Satin-Jacke von Escada“. Dazu eine Sommerkleid aus den 70er Jahren und eine Krawatte. Die Teile gehörten einst Mutter, Tante und Onkel der Kundin. Alle drei Vorbesitzer waren verstorben. Bleile fügte die Erbstücke zu einem neuen Werk zusammen. Obwohl sie „schon schlucken musste, die Escada-Jacke zu zerschnippeln.“ Babystramplern und Brautkleidern hat sie auch schon zu einer Zweitkarriere verholfen.

Innen immer hell

„Tragbare Erinnerungen“ heißt der Slogan von „taschen taolili“. Carmen Bleiles Kreationen führen die Jagd nach dem neuesten Schrei aller Trendsetter ad absurdum. Carmen Bleile macht Mode zum Zurückblicken. Statt anonymer Aufbewahrungsbeutel fertigt sie Andenken zum Schultern: für Nostalgiker, für Extravagante, für Individualisten. Für Menschen, die das Vertraute gern festhalten.

Ein Blick in die Schau-Vitrine: Modell „Mili“ war im früheren Leben eine Cordhose, jetzt präsentiert sie sich als dunkler Shoppper im Retro-Look. Handtasche „Coco“ kommt als ehemaliger Nadelstreifen-Anzug ganz mondän daher, „Kim“ wendet sich mit pinken Bommeln eher an die verspielte Zielgruppe. Es gibt große Weekender, die eine komplette Sportausrüstung schlucken, und kleine Etuis fürs Smartphone. Die Clutch fürs nächtliche Partyhopping verschönert stilsicher ein aufgenähtes Riesen-Ginkgoblatt. Pragmatisch orientierte Exemplare bieten in draufdrapierten Hosentaschen einigen Platz, um Magazine und Wasserflaschen hineinzustopfen. Es gibt cleane weiße Reisetaschen aus Plastikplanen von Hängeschränken und solche mit einem Gürtel als Henkel. Jede Tasche ist ein Unikat. Und einer jeden verpasst Bleile ein helles Innenfutter. Die meisten anderen Taschen, die es im Handel gibt, seien schwarz, sagt sie. „Da findet man nichts.“

Bleile landete über die klassische Das-Hobby-zum-Beruf-Entscheidung in ihrem Metier. Die Halbspanierin studierte BWL, leistete Entwicklungshilfe in Guatemala, arbeitete als Projektmanagerin in einer Reutlinger Agentur. Für das Geschäft mit Nadel und Faden blieb lange die Freizeit reserviert. Mit 12 Jahren absolviert Bleile ihren ersten Nähkurs. Lief gut: „Es war Liebe auf den ersten Blick.“

Karlsruhe 2011, ein Upcycling-Event, ein einziger Haufen: Alle Besucher haben ihre aussortierten Klamotten zusammengeschmissen. Alle angeln sich aus dem Textilfriedhof Einzelteile, um sie wieder herzurichten, umzustylen, wiederzubeleben. Alle nähen aus den alten Kleidern neue. Nur nicht Carmen Bleile. Die steht kurz vor einem Trip nach Barcelona und braucht noch eine Reisetasche. Also fischt sie aus dem Berg an dunklen Relikten ein pinkes Etuikleid und eine orange Bluse, die einzigen bunten Teile, und verbaut sie zum Prototyp ihres späteren Unternehmens. Der fällt auf. Auf dem Flughafen in Spanien sprechen sie zahlreiche Menschen auf ihre aufgehübschte Textilantiquität an. Und wer wäre verlässlicher in Geschmacksfragen als ein weitgereistes Kosmopolitenpublikum? Bleile vertraut dem Zuspruch, versucht es weiter, vernäht Lieblingskleider. Sie schreibt einen Businessplan, greift den Gründerzuschuss ab, lässt sich von Katze Lili und Buchfigur Tao bei der Namensfindung inspirieren und macht sich noch im gleichen Jahr selbstständig. Und die Selbstständigkeit ist schon auch Selbstverwirklichung, sagt die 40-Jährige. Und lacht.

Kaufen mit Gewissen

Taschen aus abgelegten Klamotten: Das klingt erst einmal nicht nach dem, was man in Hochglanzmagazinen oder auf Pariser Laufstegen sieht. Aber Bleiles Konzept spiegelt den Zeitgeist. Der aufgemöbelte Vintage-Chique, das Handgemachte und nicht industriell Hergestellte, das Wiederverwerten und Sparen von Rohstoffen: Das bestimmt zunehmend die moderne Einkaufskultur. Fachkreise benennen solche Produktionspraktiken dann mit hippen Anglizismen wie Do-it-yourself oder eben Upcycling. Man könnte aber auch sagen: Mit ihren Taschen verkauft Bleile einen Beitrag zur Nachhaltigkeit, ein gutes Gefühl. Ihre Kunden beschreibt sie als „Leute, die sich Gedanken machen“. Wenn die shoppen gingen, stellten sie sich Fragen wie: Wo kommt das Teil her? Wer hat’s gemacht? Ein Kind in Indien?

Der bewusste Konsum erfordert freilich eine gewisse Generosität. Zwischen 25 und 300 Euro kostete eine echte Taolili. Die Macherin selber bekommt auch ideellen Lohn: „Wenn ich an einer Tasche sitze, geht mir das Herz auf.“ Das Schönste, sagt Carmen Bleile, sei die Freude der Kunden bei der Übergabe. Für die große Konkurrenz schwärmt sie trotzdem ein bisschen. Etwa für den Pariser Branchenprimus, bei dem die Ledertaschen auch mal Kleinwagenpreise haben: „Für Hermès würde ich schon gerne arbeiten. Aber das ist ein Traum.“

Es geht auch casual: Carmen Bleile vernäht eine Hosentasche zur Hosen-Tasche.

Es geht auch casual: Carmen Bleile vernäht eine Hosentasche zur Hosen-Tasche.

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Erstellt:
13.05.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 52sec
zuletzt aktualisiert: 13.05.2016, 01:00 Uhr

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