Zeitreise mit Kanaldeckel

Tag des offenen Denkmals stieß in Tübingen auf reges Interesse

Ein spannendes Programm und perfektes Wetter begünstigten den Tag des offenen Denkmals am gestrigen Sonntag in Tübingen. Das Thiepval-Areal und das ehemalige Haus des NS-nahen Philosophen Theodor Haering waren zwei der Stationen.

12.09.2016

Von DOROTHEE HERMANN

Ins Foyer des Wohnprojekts Schellingstraße6 schauten am gestrigen Sonntag diese Tübinger Denkmalwanderer. Ex-Besetzer und Denkmal-Erklärer Jens Rüggeberg (dritter von links) war sichtlich amüsiert.Bilder: Sommer

Ins Foyer des Wohnprojekts Schellingstraße 6 schauten am gestrigen Sonntag diese Tübinger Denkmalwanderer. Ex-Besetzer und Denkmal-Erklärer Jens Rüggeberg (dritter von links) war sichtlich amüsiert.Bilder: Sommer

Tübingen. Das Thiepval-Gelände am Eingang zur Steinlachallee ist für das diesjährige Motto „Gemeinsam Denkmale erhalten“ beispielhaft. Es zeigt, wie sich aus einem militärischen Gebäudekomplex eine Mischnutzung aus selbstverwaltetem Wohnprojekt, Behörde und Eigentumswohnungen entwickeln konnte: Der Tübinger Jurist und Lokalhistoriker Jens Rüggeberg kündigte im Innenhof des Wohnprojekts Schellingstraße 6 „eine Zeitreise durch die Geschichte dieses Areals“ an.

Bei ingesamt drei Führungen über das Gelände zwischen Hegel- und Schellingstraße wies er die ersten zirka 50 Interessierten zunächst auf einen historischen Kanaldeckel mit der Jahreszahl 1914 hin. Die Abdeckung ist im Hof des ebenfalls in jenem Jahr errichteten Gebäudes Schellingstraße 6 zu finden. Das stattliche Haus diente damals als Unterkunft für eine Kompanie Maschinengewehrschützen. Diese gehörten zu dem Regiment in der benachbarten großen Kaserne, die mit ihren massiven Zinnen im Jahr 1875 im Stil der Festungsarchitektur erbaut wurde. „Das deutsche Kaiserreich stand im Schatten des Militärs“, so Rüggeberg.

Den Namen „Thiepval-Kaserne“ erhielt das Gebäude erst in der NS-Zeit, berichtete der Lokalhistoriker. Das französische Thiepval war ein von den Deutschen gehaltenes Dorf während der verheerenden Schlacht an der Somme 1916. „Es gab eine Million Tote, die Hälfte davon Engländer“, sagte er. Bei der Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs hätten die Nazis mit der Namensgebung den Revanche-Gedanken anheizen wollen.

Nach Kriegsende 1945 nutzte die französische Garnison die Thiepval-Kaserne, so Rüggeberg. Als die Franzosen 1978 abzogen, ging der Besitz an den Bund über. Eine Gebäude-Hälfte ist noch immer Bundeseigentum und Sitz des Tübinger Finanzamts. Die andere Hälfte verkaufte der Bund an einen Investor. Dieser Teil des imposanten Baus ist mittlerweile in Eigentumswohnungen aufgeteilt.

Das Tübinger Schloss

als Holzmodell

Das von den Franzosen als Stabsgebäude genutzte Anwesen Schellingstraße 6 wurde 1980 besetzt. Rüggeberg war dabei. „Die Wohnungsnot in Tübingen war damals fast so groß wie heute“, sagte er. Zwischenzeitlich vom Bund an das Tübinger Studentenwerk vermietet, ist das mittlerweile selbstverwaltete Gebäude nun dem Mietshäuser-Syndikat angegliedert.

Die Tübingerin Ursula Lass hat sich zunächst auf dem Thiepval-Areal umgesehen. Danach schaffte es sie es noch zur abschließenden 16-Uhr-Führung durch das Haering-Haus. „Ich hätte gerne noch mehr Führungen besucht“, sagte sie. „Aber es war zeitlich nicht möglich.“ Die Medizinisch-Technische Assistentin war so fasziniert von ihrem ersten Denkmaltag, dass sie sich den in die Historie eintauchenden Septembersonntag künftig vormerken will: „Weil es sich wirklich lohnt.“

Mehr als 100 Besucher steuerten das in den Jahren 1867/1868 im Stil des späten bürgerlichen Klassizismus errichtete Wohnhaus an. Aufgrund des großen Interesses konnten sie sich nur etappenweise in Gruppen zu jeweils zehn Personen umsehen. Das Haering-Haus dient seit 1967 als Depot für das Stadtmuseum. Unter anderem werden dort historische Ansichten von Tübingen aufbewahrt, Nachlässe von Künstlern oder hiesigen Firmen. Beim Einzug 1967 waren es 3500 Inventarstücke, inzwischen sind es mehr als 30 000. Doch nicht alle lagern in der Neckarhalde, sagte die Provenienzforscherin Andrea Richter.

Über eine abgenutzte Holztreppe folgten die Besucher der Registrarin – so der offizielle Titel der Sammlungsbetreuerin Leila Sayer-Degen – ins Obergeschoss, wo Gemälde und Graphiken in Umschlägen aus säurefreiem Karton aufbewahrt werden. Auf einem Schrank ist ein altes Holzmodell des Tübinger Schlosses abgestellt. Eine altertümliche mechanische Schreibmaschine der Marke „Urania“ stammt offenbar von der Stuttgarter Firma Zimmermann.

Diese Trommel der ehemaligen Tübinger Bürgerwehr holte Sammlungsbetreuerin Leila Sayer-Degen beim gestrigen Tag des offenen Denkmals aus einem Schrank im Haering-Haus in der Neckarhalde. Es dient dem Stadtmuseum als Depot. Die Trommel wurde 1851 letztmalig benutzt.

Diese Trommel der ehemaligen Tübinger Bürgerwehr holte Sammlungsbetreuerin Leila Sayer-Degen beim gestrigen Tag des offenen Denkmals aus einem Schrank im Haering-Haus in der Neckarhalde. Es dient dem Stadtmuseum als Depot. Die Trommel wurde 1851 letztmalig benutzt.

Eintritt nur einmal im Jahr

Der Tag des offenen Denkmals will auf schützenswerte oder bereits erfolgreich erhaltene Monumente aufmerksam machen. In der Tübinger Kernstadt und den Stadtteilen waren am gestrigen Sonntag sieben Bauten für Besucher geöffnet. Der bundesweite Aktionstag mit Führungen wird von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz ausgerichtet. Manche Monumente sind nur an diesem Tag öffentlich zugänglich. Den Tübinger Tag organisierten der Bürger- und Verkehrsverein, das Kulturamt und das Liegenschaftsamt, das Landesamt für Denkmalpflege und zahlreiche Ehrenamtliche.

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Erstellt:
12.09.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 55sec
zuletzt aktualisiert: 12.09.2016, 01:00 Uhr

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