Tübingen · Fachkräftemangel

Studium geschmissen, Ausbildung begonnen: Betroffene erzählen

Nicht zu jedem passt ein Studium. Das liest man häufig. Wie ergeht es denen, die sich für eine Ausbildung entscheiden? Drei Abbrecher berichten

17.03.2023

Von Tobias Hauser

Bild: Adobe Stock | Simple Line

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Jan Henrik Horn ist 29 und leitet das Küchenteam im Waldhäuser Hof in Tübingen, den sein Vater betreibt. Der Weg dorthin war nicht einfach. Sein Studium an der Uni war nichts für ihn, seine Ausbildung schon – aber die Arbeitsbedingungen waren teilweise katastrophal, erzählt er.

„Nach dem Abitur …

… habe ich erstmal ein Jahr in Neuseeland einen Freiwilligendienst gemacht. Ich hatte wenig Pläne für das, was danach kommen sollte. Ich habe dann beschlossen, in Tübingen Sport zu studieren.

Das hab ich ungefähr zwei bis drei Monate gemacht, mich dann jedoch relativ schnell gefragt: Was mach ich hier überhaupt? Ich hatte einfach keinen Bezug zu den Themen, Abläufen und dem Uni-Leben. Spaß hatte ich schon, aber eine Zukunftsperspektive habe ich damit nicht gesehen. Vielleicht passt ein Studium an der Uni auch nicht zu mir, hab ich gedacht. Ich bin mit praktischer Arbeit aufgewachsen, nicht mit wissenschaftlicher Theorie.

Ich hab dann in Reutlingen in einer Metzgerei ein duales Studium in ‚BWL-Food-Management‘ gemacht, das ich bei einer Ammerbucher Metzgerei abgeschlossen habe. Danach habe ich mich zu einer Kochausbildung entschlossen, um die praktischen Kenntnisse zu vertiefen. Die habe ich 2021 in Tübingen abgeschlossen.“

„Die Entscheidung, mein Studium abzubrechen, …

… war richtig. Ich bin total glücklich damit, wo ich jetzt bin und gehe jeden Tag mit viel Energie zur Arbeit. Der Weg dorthin war aber steinig. Ich habe sowohl bei meiner Ausbildung als auch bei meinem dualen Studium den Ausbilder gewechselt, weil ich einfach unter aller Sau behandelt wurde. Beim meinem dualen Studium gab es kein Konzept, und ich hab einfach nur Feuer gelöscht. Davor wurde ich für 6 Monate als Praktikant zum Stundenlohn von 3,70 Euro beschäftigt – trotz bereits eingeführtem Mindestlohngesetz.

Bei meiner Koch-Ausbildung in Bayern musste ich dann haufenweise Überstunden machen, die nie ausbezahlt oder ausgeglichen wurden. Nachdem ich das angesprochen habe, wurde mir gekündigt. Es ist mir angesichts des Fachkräftemangels ein Rätsel, wie so mit Leuten umgegangen wird. Vielleicht habe ich ja nur zufällig in zwei verschiedenen Betrieben in zwei verschiedenen Branchen solche Abzocke erlebt, vielleicht auch nicht. Ich weiß, dass ich immer nur das Mindeste gefordert habe: faire Behandlung.“

Amelie Rau ist 22. Sie macht seit einem Jahr eine Ausbildung zur Industriekauffrau. Davor hat sie in Tübingen und Österreich studiert.

„Nach dem Abitur …

… habe ich angefangen zu studieren. Erst Informatik in Tübingen. Im ersten Semester habe ich schon gemerkt, dass das überhaupt nicht mein Ding ist. Der Mathe-Teil war extrem viel schwerer als in der Schule, und Informatik habe ich mir ganz anders vorgestellt. Ich hatte vielleicht so ein bisschen ein Bild wie aus Filmen mit dem coolen Programmierer, aber es war dann sehr trocken und irgendwie realitätsfern.

Dann hab ich in Salzburg Politik, Wirtschaft und Philosophie angefangen. Vor allem Wirtschaft hat mir gut gefallen. Aber es war wegen Corona alles online, ich kannte dort niemanden. Deshalb bin ich wieder nach Tübingen und habe hier Wirtschaftswissenschaften angefangen. Es war so theoretisch und so schwer. Ich habe mir selbst total viel Druck gemacht und dachte: Ich schaff das alles nicht, ich bin viel zu dumm. Parallel zu den Klausuren habe ich dann eine Ausbildung gesucht und auch sehr schnell eine gefunden. Seit über einem Jahr lerne ich jetzt Industriekauffrau.“

„Die Entscheidung, mein Studium abzubrechen, …

… war richtig, richtig gut. Ich hatte in der Schule immer gute Noten. Nach dem Abi dachte ich irgendwie: Ich kann studieren, natürlich studiere ich. Mittlerweile denke ich, es ist am allersinnvollsten, erst mal eine Ausbildung zu machen. Man nimmt eine ganz neue Perspektive ein und kann später immer noch überlegen, ob man studiert. Ich hab mich im Studium immer blöd gefühlt, jetzt weiß ich, mir haben nur Grundlagen gefehlt. Das hat mir eine Menge Selbstvertrauen zurückgegeben. In der Ausbildung lerne ich mit mehr Praxisbezug, alles ist viel angewandter. Ich kann nur wirklich jedem raten, nach dem Abi eine Ausbildung zu machen.“

Jasmin Fischer, 28, wollte Lehrerin werden. Das Studium brach sie nach zwei Semestern ab und begann eine Ausbildung.

„Nach dem Abitur …

hatte ich eine große Entscheidung vor mir. Es gibt so viele Berufe und, gerade für die Ausbildungsbranche, wenige Informationen. Ich wollte immer Lehrerin werden und habe dann ein Studium für Werkrealschul-Lehrerin angefangen. Mich hat überrascht, wie sehr man auf sich selbst gestellt ist. Ich habe eine Prüfung nach der anderen nicht bestanden und im zweiten Semester entschieden, abzubrechen. Mir ging’s psychisch schlecht. Es schlägt einem einfach aufs Gemüt, wenn man immer lernt und macht und tut, aber keinen Erfolg damit hat.

Mir war klar, dass ich kein anderes Studium machen will, also habe ich mich nach einer handwerklichen Ausbildung umgesehen. Die Entscheidung fiel dann schnell auf den Beruf der Raumausstatterin. Der ist einfach so vielseitig und vereint alles, was man im Handwerk in Innenräumen machen kann: Tapezieren, Polstern, Vorhänge, Bodenbelag und so weiter. Ich hab mich in dem Beruf sehr wohl gefühlt, auch wenn es sehr körperlich ist. Nach der Ausbildung habe ich noch ein Jahr in meinem Ausbildungsbetrieb gearbeitet und hab danach meinen Meister gemacht. Jetzt bin ich auf der anderen Seite, die planende Kraft im Büro.“

„Die Entscheidung, mein Studium abzubrechen, …

… hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. Mir hat das Schaffen gutgetan. Man sieht abends, was man den Tag über gemeistert hat. Man wird auch viel selbstständiger. Eigenständig Arbeiten ausführen, die man sich selbst angeeignet hat, ist etwas, was man im Studium oft nicht so hat.

Für alle, die gerade vor dieser Entscheidung stehen: Praktika sind ein super Weg, um mal rauszufinden, was man mag oder nicht mag. Es ist auch wichtig, den Leistungsdruck rauszunehmen. Und man sollte nicht so sehr drauf achten, was für einen Abschluss man macht, sondern darauf, dass es auch Spaß macht. Man macht die Arbeit schließlich den Rest seines Lebens.“

Fachkräftemangel in der Region ein Riesen-Problem

Der Fachkräftemangel in der Region Neckar-Alb wird vonseiten der Unternehmen als Riesen-Problem eingeschätzt. In der jüngsten Konjunktur-Umfrage der IHK sehen rund 60 Prozent der Betriebe der Region im Fachkräftemangel ihr größtes Risiko. Bis 2035, so die IHK, fehlen in den Landkreisen Tübingen, Reutlingen und Zollernalb 61000 Beschäftigte. Darunter seien allein 50000 Fachkräfte mit einer dualen Ausbildung. Eine Entspannung ist nicht absehbar, sagt die Demografie: Das Durchschnittsalter
in der Region Neckar-Alb liegt aktuell bei 43,6 Jahren, Tendenz steigend.