Tübingen

Streitgespräch: Ist Fliegen noch ok?

Jeder bläst CO2 in die Atmosphäre: Sei es durch Autofahren, Fleischessen, Heizen oder in Urlaub fliegen. Das wollen Dienstleister wie die in Reutlingen ansässige gemeinnützige Klimaschutzagentur myclimate durch freiwillige CO2-Kompensationen ausgleichen. Das Prinzip: Wer CO2 ausstößt, finanziert Klimaschutzprojekte, die in Entwicklungsländern die gleiche Menge einsparen sollen. Aber bringt das wirklich etwas oder ist die Kompensation eher eine Gewissensberuhigung? Ein Gespräch zwischen dem Bioethiker Professor Thomas Potthast und myclimate-Geschäftsführer Stefan Baumeister.

28.10.2021

Von Miriam Plappert

Thomas Potthast. Bild: Klaus Franke

Thomas Potthast. Bild: Klaus Franke

Herr Baumeister, Sie sind Geschäftsführer von myclimate Deutschland. Wie funktioniert die freiwillige CO2-Kompensation, die Sie anbieten?

Stefan Baumeister: Wir beraten Unternehmen und Privatpersonen bei allem, was mit Klimaschutz zu tun hat. In aller Regel geht es dabei nicht mit dem CO2-Kompensieren los, sondern bei den Fragen: Was für einen Fußabdruck habe ich? Was kann ich tun, um den Fußabdruck zu verringern? Wo kann ich Emissionen vermeiden? Am Ende dieses Prozesses muss ich anerkennen, dass ich nicht komplett ohne Emissionen leben kann. Diese unvermeidbaren Emissionen kann man über Klimaschutzprojekte, die wir weltweit entwickeln, ausgleichen, sprich kompensieren. Wir geben der Tonne CO2 einen Euro-Wert und garantieren, dass mindestens 80 Prozent des Erlöses zweckgebunden in unsere Klimaschutzprojekte fließen.

Herr Potthast, Sie haben bei Flügen selbst schon freiwillig CO2 kompensiert. Trotzdem sehen Sie Kompensation kritisch. Was lässt Sie zweifeln?

Thomas Potthast: Ich kompensiere selbst und werde das auch weiterhin tun. Aber, wenn wir Klimaschutz nur auf die freiwillige CO2-Kompensation reduzieren, fangen wir meines Erachtens an der falschen Seite an. Wir müssten vielmehr die Gesetze so ändern, dass private CO2-Kompensation gar nicht mehr nötig wäre, indem man die Umweltkosten schon in den Marktpreis miteinberechnet. Das heißt, wir brauchen schon in den Flugpreisen selbst so etwas wie eine CO2-Abgabe.

Das würde einen Teil Ihres Geschäfts überflüssig machen, oder Herr Baumeister?

Baumeister: Ich kann voll unterschreiben, dass wir ohne ambitionierte Gesetze unsere Klimaziele vom Pariser Abkommen auf gar keinen Fall erreichen werden. Aber solange die Politik diesen Rahmen noch nicht ausreichend entwickelt hat, ist die Kompensation für uns ein sinnvoller Baustein in der Klimastrategie. Um Ihre Frage konkret zu beantworten: Wenn alle Kosten, im Preis enthalten wären, würden wir wahrscheinlich nicht mehr in dem Maße für freiwillige Kompensationsprojekte gebraucht werden, aber mit Sicherheit noch für die CO2-Berechnung und für die Beratung, wie man seinen eigenen CO2 -Fußabdruck reduzieren kann. .

CO2-Kompensation wird gerne auch als „moderner Ablasshandel“ bezeichnet. Beruhigen Leute damit ihr Gewissen und fliegen dann erst Recht?

Baumeister: Studien besagen, dass Leute, die kompensieren, sich bewusst mit dem Thema auseinandergesetzt haben und viele ihr Flugverhalten auch ändern – also nicht mehr so oft fliegen, oder länger in einem Land bleiben. Wir möchten den Leuten nicht vorschreiben, ob sie fliegen oder nicht, sondern wir wollen sie darauf sensibilisieren, welchen Fußabdruck sie dabei hinterlassen. Wenn sie sich fürs Fliegen entschieden haben, haben sie bei uns die Möglichkeit, ihren Fußabdruck wenigstens zu kompensieren.

Potthast: Wir wollen Menschen in einer Demokratie ihre Lebensweise nicht vorschreiben. Aber in dem Moment, in dem meine Lebensweise die Lebenschancen anderer Menschen einschränkt, gilt das nicht mehr so einfach. Wenn wir das Pariser Klimaabkommen ernst nehmen, hat jede und jeder von uns ein Budget von ungefähr zwei Tonnen Treibhausgas-Äquivalenten pro Jahr. Wir sind alle weit drüber. Ich übrigens auch. Das zeigt die Dramatik des Problems. Und hier reicht mir ausdrücklich nicht der Verweis auf individuelle Freiheit. Hier haben wir Verpflichtungen anderen, auch künftigen Generationen, gegenüber. Wir sind alle angehalten, uns in irgendeiner Weise an diesen zwei Tonnen zu orientieren. Und damit wird Fliegen tatsächlich etwas, das ich nur im Schnitt alle fünf Jahre interkontinental betreiben könnte. Ich habe schon ein bisschen Sorge, dass die Entlastung des eigenen schlechten Gewissens durch die Kompensation wirkt. So nach dem Motto: Ich habe ja kompensiert, dann ist es okay.

Wenn sich Leute ihren CO2 -Fußabdruck anschauen und feststellen, dass der ein Vielfaches über den geforderten zwei Tonnen liegt, resignieren viele dann nicht einfach?

Baumeister: Wenn ich meinen Fußabdruck angucke, komme ich auch kaum unter fünf Tonnen. Obwohl ich kein Auto habe, in einer Wohnung lebe und Ökostrom nutze. Und warum? Aufgrund der Infrastruktur, die ich nutze. Auch wenn ich wenig konsumiere, bekomme ich da einfach eine Pauschale drauf, an der ich momentan kaum etwas ändern kann. Um das Ziel von 2 Tonnen zu erreichen brauchen wir einen politischen Rahmen: Wir müssen es schaffen, bis 2050 nur noch Ökostrom zu beziehen, ohne fossile Brennstoffe zu heizen, und vom Öl unabhängig werden. Das kann ich auch als Privatperson nicht. Dafür müssen wir die richtigen Leute wählen, die es umsetzen und entsprechend viel Druck aufbauen. Es ist eine Herkulesaufgabe. Aber wenn Sie ein Ziel haben, dann haben sie immer zwei Möglichkeiten: Entweder Sie resignieren und machen nichts, oder sie sagen, dass schaff ich irgendwie und machen sich auf den Weg.

Potthast: Dieses Gefühl der Überforderung ist schon ernst zu nehmen. Man muss aber auch ernst nehmen, dass Leute Mechanismen haben, sich überhaupt nicht dieser Herausforderung zu stellen und alles abzutun. Insofern müssen wir, wenn man so will, ein bisschen ins weitere Nachdenken kommen und uns fragen: Kann das denn mein letztes Wort sein, dass ich sage, ich fühl’ mich überfordert? Kann ich mich nicht doch politisch engagieren und all’ die Dinge angehen, die eben genannt wurden? Unmögliches zu tun, ist niemandem aufgegeben, das ist richtig. Aber umgekehrt müssen wir auch schauen: Was ist denn möglich? Manchmal sagt jemand da vielleicht auch zu schnell: Nein das geht nicht. Unsere Kanzlerin hat in ihrer Frühzeit zum Beispiel mal gesagt, es sei undenkbar, mehr als 5 Prozent des Stroms aus regenerativen Quellen zu beziehen. Und wo sind wir jetzt? Bei 55 Prozent und mehr.

Stefan Baumeister. Bild: Klaus Franke

Stefan Baumeister. Bild: Klaus Franke

Myclimate berechnet einen Preis von 22 Euro pro Tonne CO2 . Ist das ein angemessener Preis?

Potthast: Wenn ich tatsächlich die gesamten Umweltkosten einberechnen will, ist es zu wenig. Ich könnte mir gut vorstellen, dass im Laufe der nächsten Jahre der freiwillige Kompensationspreis noch nach oben gehen wird, und das ist gut so.

Baumeister: Viele Leute fragen uns, wie wir so einen günstigen Preis pro Tonne CO2 anbieten können. Das liegt daran, dass wir unsere Projekte nicht in Deutschland, sondern in Entwicklungsländern umsetzen. So ein Projekt ist in aller Regel nicht materialintensiv, sondern Sie haben hauptsächlich Personalkosten: Leute, die vor Ort einen effizienten Kocher oder eine kleine Biogas-Anlage bauen, so dass die Einheimischen zum Kochen deutlich weniger oder gar kein Holz mehr brauchen. Jeder weiß, dass die Personalkosten in einem Entwicklungsland viel niedriger sind, als in Deutschland. Daher ist es noch möglich, für relativ günstiges Geld, solche Projekte zu entwickeln. In der Zukunft kann es durchaus sein, dass die Entwicklungsländer sagen: Halt! Diese Emissionen in meinem Land rechne ich mir selber gut. Dann fallen viele Projekte, die wir bisher durchführen konnten weg, weil wir die eingesparte Emissionen ja nicht doppelt zählen dürfen. Oder es bleiben nur teure Projekte übrig, weil sich der Staat die günstigen zum Erreichen seines Emissionsziels selber nimmt.

Das heißt, es könnte einen Konkurrenzkampf um Klimaschutzprojekte geben?

Baumeister: Es könnte eine Art Konkurrenz zwischen einem Staat und einem privaten Markt geben. Aber ich sehe das eigentlich nicht als Konkurrenz. Wenn man mit Vertretern von Entwicklungsländern spricht, ist denen völlig klar, dass sie nicht genügend Geld haben, um all das selber zu finanzieren. Aber es ist wahrscheinlich, dass sich die Tonnenpreise auf dem freiwilligen Markt erhöhen werden.

Vielleicht lohnt es sich, bei der Frage nach dem Preis noch auf ein anderes Argument einzugehen: Unsere Projekte sparen nicht nur CO2 ein, sondern sorgen auch dafür, dass sich die Lebensbedingungen der lokalen Bevölkerung auf vielfältige Art und Weise verbessert. Bisher hatte mehr Wohlstand immer mit mehr Energieverbrauch und mehr Emissionen zu tun. Da sehe ich die Kompensation als eine Brücke zwischen uns reichen Industrienationen und den armen Ländern: Wir helfen ihnen sich zu entwickeln und mehr Wohlstand aufzubauen – aber anders als es wir gemacht haben, nicht fossil getrieben, sondern tatsächlich über erneuerbare Energien oder mehr Energieeffizienz.

Potthast: Beim Thema Nachhaltige Entwicklung müssen wir weggehen von der Idee, dass reiche Länder armen Ländern helfen. Es geht vielmehr um Selbstermächtigung und das wird vielleicht ein bisschen konterkariert mit der Idee ‚Wir kommen mit Geld von Kompensationen aus dem globalen Norden und helfen Menschen in armen Ländern‘. Die UN-Ziele für Nachhaltige Entwicklung (SDGs) sagen hingegen: Alle Länder der Welt sind Entwicklungsländer. Nach dieser Logik ist Deutschland genauso ein Entwicklungsland in Bezug auf Nachhaltigkeit wie jedes andere Land der Welt. Aber wir kommen sehr schwer weg von diesem Gedanken, dass wir aus dem globalen Norden jemand anderem helfen müssen, sich zu entwickeln. Das ist eine sehr generelle politische Kritik, die sich nicht nur auf die CO2-Kompensation bezieht. Um nicht falsch verstanden zu werden: Industrieländer haben bereits sehr viel Treibhausgase ausgestoßen und damit auch große Verpflichtungen gegenüber Ländern des Globalen Südens.

Welche Alternativen gibt es zur freiwilligen CO2-Kompensation?

Potthast: Nicht fliegen. Beziehungsweise ein Regelwerk, das die Treibhausgasemissionen im üblichen Preis des Produktes schon verankert. Solange diese Dinge in den Flugpreisen nicht drin sind, sollten wir immer kompensieren. Außerdem müssen wir unsere Mobilität völlig neu denken – auch in der Wissenschaft. Internationaler Austausch kann und darf zum Beispiel nicht mehr bedeuten, ich fliege für drei Tage nach Rio auf eine Konferenz über Nachhaltigkeit und dann wieder zurück. Wir müssen radikal umdenken und sagen, wir gehen vielleicht nur noch alle drei oder alle fünf Jahre transkontinental, dann bleiben wir aber für sechs Monate da.

Baumeister: Die Alternative heißt nicht fliegen. Es geht aber nicht nur ums Fliegen – wir stoßen überall Emissionen aus.

Was kann CO2-Kompensation und was kann sie nicht?

Baumeister: Für Unternehmen ist es ein sinnvoller Baustein innerhalb einer Strategie, dafür zu sorgen, dass man all die Emissionen, die man nicht vermeiden kann, über Klimaschutzprojekte ausgleicht. Für Privatpersonen ist es die Möglichkeit, Emissionen auszugleichen, über die ich oft die freie Wahl habe.

Potthast: Ich würde sogar sagen, Institutionen müssen kompensieren. Das ist nicht nur sinnvoll, sondern das gehört heutzutage zu verantwortlichem Wirtschaften dazu. Bei Privaten sehe ich das im Grunde genommen auch so – wobei wir uns klarmachen müssen, dass das nur die letzte Option ist. Wenn wir das Ziel von zwei Tonnen Treibhausgas pro Person und Jahr ernst nehmen, müssen wir sehr viel mehr tun als nur kompensieren. Wenn ich sage: Ich habe meine Flüge kompensiert und rechne die jetzt nicht mehr in meine private Treibhausbilanz ein, dann bin ich nah am Selbstbetrug. Da muss man sehr genau aufpassen.