Quer-Kopf

Streetwear aus dem Hobbit-Land

Jochen Scherzinger ist Modedesigner. Statt in einer flirrenden Großstadt lebt er lieber in einem gottverlassenen Schwarzwaldtal. Dort macht er Kleidung mit Trachtenelementen – für Menschen, die sonst Nasenringe und tätowierte Unterarme tragen.

29.06.2018

Von TEXT: Kathrin Löffler|FOTOS: Unternehmen

So sieht die Schwarzwälder Version eines Shoppingparadieses aus: Wer am Firmensitz von Artwood Shirts kauft, bekommt Naturerlebnis und Instagram-Material obendrein.

So sieht die Schwarzwälder Version eines Shoppingparadieses aus: Wer am Firmensitz von Artwood Shirts kauft, bekommt Naturerlebnis und Instagram-Material obendrein.

Dass Jochen Scherzinger seine Heimat liebt, war eine Zeit lang ein Problem. Damals, als er in Mannheim studierte. Den Städtern und Kurpfälzern um sich herum hätte er gerne demonstriert, dass er eigentlich aus dem Schwarzwald stammt – und sich auch als Schwarzwälder gekleidet. In voller Trachtenmontur durch den Alltag zu laufen schien ihm allerdings nicht so angebracht. Einzige Alternative waren Shirts mit mittelmäßig lustiger „Schwarzwaldbub“-Aufschrift. „Das wäre affig gewesen“, sagt Scherzinger.

Inzwischen heißt seine Lösung Raska. Raska ist eine Bauernbluse, es gibt sie für Damen und Herren. Blau-weiß gestreift oder kohlrabenschwarz. Ein Teil aus dem Schwarzwald, vernäht in Bad Säckingen, mehr traditionell als affig. Raska hat Biesen und Zwirnknöpfe. Keine Rüschen, keine Spitzenbordüren, kein Blumendekor, schon gar kein Aufdruck eines Hirschgeweihs, kein Kitschmoment. Scherzinger hat Raska selbst entworfen. Sie ist Teil seiner „Artwood“-Kollektion. So heißt das Modelabel, das er 2012 gegründet hat. Nicht in einem szenigen Industriealtbau in einer szenigen Metropole, sondern dort, wo es zum nächsten Nachbarn einen Gewaltmarsch braucht.

Dass Scherzinger, 36, Designer wurde, liegt für ihn auf der Hand. Er habe eine sehr kreative Familie. Der Vater ist Schwarzwaldmaler in Öl und Pastell, Tänzer gab es auch in der Verwandtschaft. Der Teenager Jochen begeisterte sich schon früh für Klamotten. Im Idealfall sahen die etwas anders aus als jene seiner Kameraden, am liebsten stiefelte er im Kittel des Großvaters in die Schule. „Auf alde Höf‘ kommt ja nix weg“, badensert Scherzinger. Zum Geldverdienen schien ihm die Klamottensache aber erst einmal nicht so geeignet. Er absolvierte eine Mechanikerausbildung, versuchte sich an einem Maschinenbaustudium, war unzufrieden – und brach ab. Mit 26 wechselte er auf die Modeschule – und zog durch. Es folgte ein Praktikum beim damaligen In-Label Naketano. Dort durfte Scherzinger technische Zeichnungen machen, aber nichts Kreatives. Er war frustriert, sein Chef anscheinend auch, Scherzinger flog nach drei Wochen. Von den großen Städten hatte er da die Nase voll – von den großen Städten und von ihren Bewohnern, die, wie er sagt, denken, man sei ein bisschen dumm, wenn man aus dem Schwarzwald komme. Sein Vorgesetzter bei Naketano habe nicht einmal einen Reifen wechseln können. Scherzinger zog zurück. Dorthin, wo es Straßen nur in Serpentinenausführung gibt, wo die Häuser Höfe sind und Holzverkleidung tragen und die Anschriften auf „-tal“ enden. Und wo die Stellenangebote für Modedesigner eher rar sind. „Es liegt in der Natur der Sache, dass hier nur die Selbstständigkeit bleibt“, sagt Scherzinger.

Er baute sich sein Elternhaus zum Firmensitz um. Ein Gebäude wie aus einem Modelleisenbahnbausatz in einer Umgebung wie aus einem Fantasy-Streifen, knapp drei Kilometer vom nächsten Ort entfernt, rund 40 nordöstlich von Freiburg, 1000 Meter über Normalnull, zwischen Moosteppichen und Nebelschwaden, die regelmäßig durchs Tal schleichen. Scherzinger postet häufig Fotos davon und setzt den Hashtag „Hobbitlife“ darunter.

Im Haus hängen Kruzifixe über versandfertigen Kleidungsstapeln und Fasnetsmasken über Nähzeug. Wenn Scherzinger vom Computer auf und zum Fenster hinausschaut, sieht er nichts als Tannenbäume. Zwei Mitarbeiter beschäftigt Artwood. Scherzinger selbst wohnt und arbeitet in seinem „Headquarter“, wie er das Schindelhaus am Hang nennt. Auch Kunden empfängt er am liebsten hier. Dann gibt es Kaffee oder ein Craftbeer oder einen kleinen Spaziergang – und ein Shoppingerlebnis mit Instagrampotenzial. „Dass Du ein geiles T-Shirt mitten im Wald kaufen kannst, ist ein Alleinstellungsmerkmal. Das macht mir keiner nach“, sagt Scherzinger.

Der Hausherr selbst trägt Nasenring, Schnäuzer, weiße Sneaker und viele Tintenbilder auf den Unterarmen. Auch die Models, die Raska und die anderen Artwood-Teile auf der Homepage präsentieren, sehen so aus: viele Piercings, viele Tattoos, viel Eyeliner. Als Scherzinger seine Zielgruppe definierte, dachte er an Menschen zwischen 25 und 35. Jetzt kaufen 17- bis 70-Jährige seine Trachten. Wobei, Trachten: Als Trachtenhersteller sieht er sich nämlich gerade nicht. Bayerns jüngsten Exportschlager, die bundesweite Oktoberfestinvasion samt ihres Dirndldresscodes, findet er „gruselig“. Scherzinger will den Schwarzwald für den Alltag tragbar machen. „Ich möchte ein Produkt schaffen, das die Region widerspiegelt. Mit ländlichen und streetigen Elementen.“ Für den Designer ist das ein schmaler Grat. Der Schwarzwald ist eine der populärsten Tourismusdestinationen Deutschlands. Produkten aus solchen Tourismusdestinationen haftet rasch Souvenircharakter an. Und ein Souvenir, sagt Scherzinger, wirke schnell billig. Teilweise hat er Einzelhändlern abgesagt, weil ihm deren Präsentation seiner Kleidung zu kommerziell erschien.

Zur Artwood-Kollektion gehören allerdings nicht nur Blusen mit Folklorezitaten. Hauptsächlich designt Scherzinger das, was auch in gängigen Skaterläden der Republik hängt: Sweater, Hoodies, Shirts. Stilisierte Tannen und Hästräger sind darauf gedruckt, Sepia-Prints von runzligen Bauernpaaren oder von Mädchen unter Bollenhüten, die mehr Punkrock-Attitüde ausstrahlen als pausbäckigen Liebreiz. Darunter stehen Schriftzüge wie „Liebe.Freiheit.Fasnet“, „Show your roots“ oder „Fabulous black forest“. Die meisten Sachen sind schwarz, obwohl sich einige Kunden durchaus bunte Kapuzenpullis wünschen. Für Scherzinger ist ein weißes Shirt schon eine Zumutung. Er wolle den Schwarzwald am liebsten von einer dunklen, mystischen Seite zeigen. Und er will das textile Bekenntnis zum Schwarzwald den Schwarzwäldern vorbehalten wissen. „Touristen waren nie die Zielgruppe. Das Produkt ist auf Einheimische ausgerichtet.“ Vor allem das Bollenhut-Shirt habe sich für die inzwischen zu einer Art Ikone entwickelt. „Ich kann das Ding gar nicht so schnell produzieren, wie es sich verkauft“, sagt Scherzinger. Aber was, wenn auch Berliner Millennials Shirts mit Bollenhut-Models plötzlich für kultig befinden und im Artwood-Onlineshop ordern? „Das passiert nicht. Ich laufe ja auch nicht in I-love-Hamburg-Shirts rum.“ Ohne Globalisierung funktioniert allerdings auch identitätsstiftender Style aus der Provinz nicht. Anders als die Bauernblusen lässt Scherzinger seine Streetwear für Schwarzwälder in der Türkei herstellen. In Deutschland sei das zu teuer.

Irgendwann wollten Scherzingers Kunden die Motive seiner Shirts auch an den Wänden hängen haben. Der Modemacher begann, sie auf Leinwände, Glastüren oder geräuchertes Holz zu drucken. Kunst wurde zum zweiten Artwood-Standbein. Inzwischen verkauft er seine Stücke für vierstellige Beträge. Die Bilder zeigen spaceblauviolet leuchtende Vamps mit Schwarzwälder Festtagshauben auf dem Kopf, adrette tätowierte junge Menschen, die Holzknüppel und Speckschwarten in den Händen halten und Schwarzwälder Handwerksberufe und Sagengestalten nachstellen, Homosexuelle, die sich in traditionellen Schwarzwälder Samtwesten umarmen. Scherzinger selbst versteht seine Sachen gar nicht als Politikum. Polarisieren will er aber schon – und eine „neue Bildsprache vom Schwarzwald prägen“. Eine, die sich von den blumenduftenden Wandererlebniswelten aus den Tourismusprospekten unterscheidet. Den Trachtenvereinen gefiel dieses Schwarzwaldbild Scherzingers anfangs gar nicht. „Hier gibt es viele, die die Tradition am liebsten mit ins Grab nehmen würden“, sagt er. Inzwischen hätten sie sich damit abgefunden. Und Scherzingers Revision des etwas tümelnden Schwarzwaldstereotyps hat mittlerweile schon Modellcharakter: Museumsmacher aus dem Fichtelgebirge buchten ihn für eine Ausstellung, um zu lernen, wie Identitätsmanagement funktioniert.

Sein Steckenpferd aber ist die Kleidersache. Auf Dauer will er auch mal einen Mantel designen, die Königsdisziplin Sakko angehen, diese Richtung. Ginge das nicht besser von Paris oder von Berlin aus, wo die Influencer und Fashionistas in größeren Scharen umherlaufen als zwischen St. Märgen und Furtwangen? „Auf keinen Fall will ich dorthin ziehen“, sagt Scherzinger. Lieber arbeite er weiter „hier hinten“. Und macht Streetwear, wo die Straßen Schotterpisten sind.

Bisher produziert er unabhängig von den Rhythmen des Einzelhandels. Vier Kollektionen im Jahr seien mit Artwood nicht zu schaffen. Das liegt allerdings nicht nur an der Unternehmensgröße. Scherzinger will seinen Abnehmern auch ein wenig Nachhaltigkeitsbewusstsein einimpfen: „Ich will, dass meine Teile eine Generation überleben.“ So, wie früher die Kittel vom Großvater.

„Ich mache mir den Schwarzwald, wie er mir gefällt“, sagt Jochen Scherzinger. Und sein Schwarzwald ist auch mal tätowiert, schwul oder zeigt Stinkefinger. Neben Shirts und Kunstdrucken designt Scherzinger auch Bauernblusen – und führt selbst vor, wie die angezogen aussehen.

„Ich mache mir den Schwarzwald, wie er mir gefällt“, sagt Jochen Scherzinger. Und sein Schwarzwald ist auch mal tätowiert, schwul oder zeigt Stinkefinger. Neben Shirts und Kunstdrucken designt Scherzinger auch Bauernblusen – und führt selbst vor, wie die angezogen aussehen.

Streetwear aus dem Hobbit-Land
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Erstellt:
29.06.2018, 07:53 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 53sec
zuletzt aktualisiert: 29.06.2018, 07:53 Uhr

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