Corona

Stockdorf und das Virus

Vor einem Jahr wurde in Deutschland die erste Infektion entdeckt, und zwar in Bayern. Eine Pandemie? Das glaubte damals kaum jemand.

27.01.2021

Von PAT

 Der Webasto-Standort im oberbayerischen Stockdorf. Foto: Lino Mirgeler/dpa

Der Webasto-Standort im oberbayerischen Stockdorf. Foto: Lino Mirgeler/dpa

Stockdorf. Am 27. Januar 2020 um 23.49 Uhr verschickte das bayerische Gesundheitsministerium eine Pressemitteilung. Der ungewöhnliche Zeitpunkt spät in der Nacht wies darauf hin, dass die Nachricht wichtig war. Deren Inhalt: In Deutschland wurde die erste Ansteckung mit dem Coronavirus nachgewiesen; bei dem Infizierten handelte es sich um einen 33 Jahre alten Angestellten des Autozulieferers Webasto in Stockdorf, Oberbayern. Der Mann kam auf die Isolierstation der München Klinik nach Schwabing.

Was da begann, wusste man damals noch nicht. Blickt man nach einem Jahr zurück, erscheint jetzt manches an diesen ersten Tagen zumindest skurril, ja surreal. Am 28. Januar, einem Dienstag, luden das bayerische Gesundheitsministerium und das Landesamt für Gesundheit eilig zu einer Pressekonferenz. Der Fall schien aufgeklärt und unter Kontrolle, so die Botschaft: In der Vorwoche war eine chinesische Webasto-Mitarbeiterin aus Shanghai für fünf Tage in der Stockdorfer Zentrale und hielt Schulungen ab. Zuvor hatte sie ihre Eltern im damaligen Corona-Hotspot Wuhan besucht. Auf dem Rückflug von Deutschland fühlte sie sich krank und wurde positiv getestet. Gleich darauf informierte sie Webasto.

Journalisten, Fotografen, Kamerateams aus ganz Deutschland machen sich nach Stockdorf auf. Schnell wird verbreitet, dass es sich um einen Teilort der Gemeinde Gauting handelt im Landkreis Starnberg, 18 Kilometer südwestlich von München. Bei Webasto ist da niemand mehr, die Firma schickt die Mitarbeiter ins Homeoffice und in Quarantäne, lediglich der Empfang des gläsernen viergeschossigen Gebäudes an der Durchfahrtstraße ist besetzt. Drei weitere Corona-Fälle werden gemeldet – ebenfalls Webasto-Mitarbeiter, die mit der Chinesin in Kontakt waren. In Berlin sagt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), man nehme das Virus ernst. Aber: „Die Gefahr für die Gesundheit der Menschen in Deutschland bleibt nach unserer Einschätzung weiterhin gering.“

Patienten „pumperlg'sund“

Die ersten Infizierten gelangen allesamt auf Isolierzimmer in der Schwabinger Klinik. Der behandelnde Chefarzt Professor Clemens Wendtner, ein Infektiologe und Tropenmediziner, wird zur Auskunftsinstitution. Die späteren allabendlichen Talkshow-Teilnehmer Christian Drosten, Melanie Brinkmann oder Hendrik Streeck sind noch unbekannt. Wendtner berichtet von keinen bis geringen Symptomen der Patienten, dass sie Serien schauen oder am Laptop arbeiten, dass sie „pumperlg'sund“ seien.

Dass sich Corona zur Pandemie entwickelt – dieser Gedanke erschien damals fremd bis absurd. Schließlich gab und gibt es immer wieder etwa Ausbrüche des Ebola-Virus, die sich aber auf einige afrikanische Länder beschränken. Und das Sars-Virus, verwandt mit Covid-19, breitete sich 2002 und 2003 von China in viele Länder aus, forderte insgesamt 774 Tote, war aber nach acht Monaten abgeklungen.

In Bayern kommen nun weitere Webasto-Fälle hinzu, hauptsächlich aus dem Familien- und Freundeskreis der weit verstreut lebenden Belegschaft. Doch lässt sich immer noch alles gut zurückverfolgen, Infizierte kommen in die Klinik, Kontaktpersonen werden in häusliche Quarantäne gesteckt.

In Gauting sind – wie andernorts auch – die wenigen Schutzmasken in den Apotheken ausverkauft. Der Begriff „Corona“ schwebt über dem Ort, auf den ganz Deutschland schaut, doch die Gemeinde will Gelassenheit demonstrieren. Es gebe „keine Spur von Hysterie“, sagt die Bürgermeisterin Brigitte Kössinger (CSU) dieser Zeitung. Das Leben geht seinen täglichen Gang. „In China brauchen sie die Masken wirklich dringender als wir hier“, meint die Apothekerin. Lediglich eine Schulweghelferin steht an der stauanfälligen Bahnhofstraße und trägt eine Maske. Ihr Foto wird von einer Nachrichtenagentur verbreitet, denn das erscheint sehr kurios. Acht Wochen nach der ersten Infektion von Stockdorf geht die Bundesrepublik in den Lockdown.

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Erstellt:
27.01.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 46sec
zuletzt aktualisiert: 27.01.2021, 06:00 Uhr

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