Kirchentellinsfurt · Corona

Spalier mit Seifenblasen

In der Neuen Steige in Kirchentellinsfurt geht die Nachbarschaft jeden Abend um 19 Uhr auf die Straße – zu Austausch, Gesang und gegenseitigem Beifall.

08.04.2020

Von Uschi Hahn

Allabendlich wird die Neue Steige in Kirchentellinsfurt zur Bühne für einen Corona-Chor aus Nachbarn. Bild: Ulrich Metz

Allabendlich wird die Neue Steige in Kirchentellinsfurt zur Bühne für einen Corona-Chor aus Nachbarn. Bild: Ulrich Metz

Wer derzeit am frühen Abend auf der Neuen Steige in Kirchentellinsfurt mit dem Auto unterwegs ist, wird Zeuge eines merkwürdigen Schauspiels: Links und rechts der Straße stehen Menschen auf dem Gehweg, haben Zettel in der Hand und singen. Wenn der letzte Ton verklungen ist, wird laut geklatscht und Danke gerufen.

Immer dabei: Barbara Krahl. Die langjährige Kirchentellinsfurter Gemeinderätin und auch sonst vielfältig Engagierte lebt mit ihrem Mann Winfried in der Neuen Steige. Sie gehört zu den Initiatoren des allabendlichen Corona-Krisen-Rituals. „Das gehört jetzt zu meinem Tagesablauf“, sagt die 74-Jährige.

Wenn man schon tagsüber alle sozialen Kontakte so weit wie möglich einschränken soll, sei das eine gute Möglichkeit, sich abends wenigstens auf Abstand zu begegnen, findet Krahl. Mittlerweile kommen jeden Abend bis zu 30 Leute zusammen. „Natürlich auf Distanz“, wie Barbara Krahl beteuert. Zum Abendchor gehören auch Bewohner aus der nahen Brunnenstraße. Auch Passanten reihten sich manchmal ein in das lose Spalier. Mit dabei sei meist auch ein kleines Mädchen, das auf einer Gartenmauer sitzt und Seifenblasen in die Luft pustet. Unterstützt werden die Sängerinnen und Sänger von einem ebenfalls in der Neuen Steige wohnenden Musikerpaar mit Querflöte und Keyboard.

Nach dem gemeinsamen Singen kommt es immer noch zu kleinen Wortwechseln. „Wie war der Tag?“, fragt man sich gegenseitig, berichtet Krahl. Oder man erkundigt sich, „ob jemand Hilfe braucht“.

Angefangen hat alles mit Schillers Ode an die Freude. Natürlich in der berühmten Vertonung von Beethoven. Nach ein paar Abenden aber wurden auch die schönsten Götterfunken langweilig. Inzwischen ist das Ganze eine Art Wunschkonzert geworden. Hallelujah von Leonhard Cohen stand schon auf dem Konzertprogramm.

Am Montagabend wollte sich der Corona-Chor an der französischen Version des eigentlich aus Schottland stammenden Volks- und Pfadfinderlieds „Nehmt Abschied Brüder“ versuchen. Man sei in der Neuen Steige eben „eine ganz schön internationale Nachbarschaft“, begründet Barbara Krahl am Telefon lachend die Auswahl der Songs. Damit der abendliche Gesang nicht ins Stocken kommt, werden zu Beginn immer Zettel mit den Liedtexten und -noten verteilt.

Und was soll der Beifall und das Johlen am Ende jedes Abendgesangs? „Wir beklatschen uns gegenseitig und bedanken uns beieinander“, erklärt Krahl. „Wir sind einfach stolz darauf, dass wir es geschafft haben.“ Denn richtig singen könne eigentlich kaum jemand aus der Gruppe. „Das klang am Anfang ganz schön schräg.“

Aber der Stolz bezieht sich nicht nur auf die zunehmenden Gesangskünste. Die Nachbarn in der Neuen Steige sind abends auch immer ein bisschen stolz darauf, dass sie wieder einen Tag der Corona-Krise gut hinter sich gebracht haben. Und weil jedem Abend der nächste Tag folgt, dienen die musikalischen Treffen einem weiteren Zweck, wie Barbara Krahl berichtet: „Wir machen uns gegenseitig Mut.“ Archivbild: Uli Regenscheit