Medizin

Sorge – aber nicht vor Corona

Kinderärzte im Land befürchten, dass die Patientenzahlen in den nächsten Wochen deutlich steigen. Das größte Problem ist aber gar nicht das Coronavirus.

18.09.2021

Von David Nau

Ein Arzt untersucht im Olgahospital des Klinikums Stuttgart ein Kind. Die Kinderärzte im Land rechnen mit einer Zunahme der Infektionskrankheiten in den kommenden Wochen und Monaten. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Ein Arzt untersucht im Olgahospital des Klinikums Stuttgart ein Kind. Die Kinderärzte im Land rechnen mit einer Zunahme der Infektionskrankheiten in den kommenden Wochen und Monaten. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Ulm. In den USA steigen die Corona-Fallzahlen bei Kindern und Jugendlichen rasant, immer mehr junge Menschen müssen ins Krankenhaus. Auch hierzulande steigen die Infektionszahlen nach dem Ende der Ferien wieder an. Am Freitag waren im Südwesten 938 Schülerinnen und Schüler wegen eines positiven Corona-Tests nicht mehr im Unterricht, rund 1400 zudem in Quarantäne. Auch schon vor dem Schulbeginn verlagerte sich die Pandemie mit zunehmendem Impffortschritt zu den Jüngeren. In den vergangenen sieben Tagen machten Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren in Baden-Württemberg 33 Prozent aller Neuinfektionen aus. Zu Beginn des Jahres lag dieser Wert noch im einstelligen Bereich. Auch die Inzidenz dieser Altergruppe liegt deutlich über dem Durchschnitt. Wie wirkt sich das alles auf die Kinderärzte im Land aus? Müssen mehr Kinder ins Krankenhaus oder zum Arzt?

„Wir haben nach der Urlaubs- und Ferienzeit vermehrt Jugendliche, die positiv sind“, berichtet Daniel Faul, Kinderarzt aus Stuttgart. Schwere Symptome seien aber nach wie vor extrem selten. Das sieht auch sein Kollege Till Reckert so, Kinderarzt mit Praxis in Reutlingen und Pressesprecher des Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Baden-Württemberg. „Corona verschwindet im Hintergrundrauschen der allgemeinen Infektionskrankheiten“, berichtet der Arzt. Und diese nähmen aktuell deutlich zu.

Wegen Schul- und Kitaschließungen und Maskenpflicht habe es in den vergangenen eineinhalb Jahren nur sehr wenig Infekte gegeben, berichtet Reckert, die meisten Kinder haben deswegen keine Immunisierung durchlaufen. „Wenn die Kinder jetzt wieder zusammenkommen und alle die gleiche Luft atmen, geht das wieder los“, erklärt der Arzt. Ein Beispiel: Das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV), das vor allem bei Kleinkindern unter einem Jahr zu Lungenentzündungen führen kann und bereits jetzt immer wieder diagnostiziert wird, obwohl die eigentliche Saison erst im November beginnt.

Am Uniklinikum Tübingen bemerken die Kinderärzte aktuell noch keinen Anstieg der schweren Coronafälle, die stationär aufgenommen werden müssen. „Wir gehen aber davon aus, dass sich das bald ändert“, sagt Tobias Walter, Oberarzt in der Notfallambulanz der Kinderklinik. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise sei die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die nach Schulbeginn mit Corona ambulant behandelt werden mussten deutlich angestiegen.

Meistens relativ harmlos für Kinder und Jugendliche

„In den allermeisten Fällen ist Corona noch immer eine relativ harmlose Erkrankung für Kinder und Jugendliche“, sagt Walter. Je mehr aber infiziert würden, umso höher auch die Zahl derer, die im Krankenhaus landen. In der ersten Welle seien in der Tübinger Kinderklinik um die fünf junge Corona-Patienten gleichzeitig gelegen – immer mal wieder auch mit schweren Krankheitsverläufen. „Meist hatten diese Patienten Vorerkrankungen oder etwa Adipositas“, erklärt Walter. Schwere Verläufe könnten sich auch bei sogenannten Coinfektionen entwicklen – wenn also der Patient oder die Patientin sowohl am Coronavirus als auch einer weiteren Infektion erkrankt sei, etwa an Influenza.

„Die meisten Patienten, die mit einer Corona-Infektion in die Notaufnahme kommen, müssen nicht aufgenommen werden“, sagt auch Friedrich Reichert, ärztlicher Leiter der pädiatrischen Notaufnahme im Klinikum Stuttgart. Nur etwa jedes fünfte Kind, das mit einer Coronavirus-Infektion im Olgahospital, der Kinderklinik des Klinikums Stuttgart, liegt, sei wirklich wegen der Infektion aufgenommen worden. „Gewöhnlich benötigen diese Kinder ein bis zwei Tage unsere Unterstützung, etwa Neugeborene, die nicht ausreichend trinken, und können dann wieder entlassen werden.“

Größere Sorgen als das Coronavirus bereiten dem Arzt andere Infektionskrankheiten, wie RSV oder die Influenza-Grippe. „Eine richtige RSV-Welle bringt Kinderkliniken immer an die Grenzen des Machbaren. Wenn dann noch Corona oder die Influenza dazu kommt, wird es sehr schwierig“, sagt Reichert. Allein in den letzten fünf Wochen mussten mehr Kinder mit einer RSV-Infektion im Klinikum Stuttgart behandelt werden – teils sogar auf der Intensivstation – als Corona-Patienten während der gesamten Pandemie.

Mit einer allgemeinen Impfempfehlung für Kinder unter 12 Jahren rechnen viele Kinderärzte deswegen nicht, sollte bald ein Corona-Impfstoff für diese Altergruppe zugelassen werden. Schon heute fragen immer wieder Eltern von Kindern unter 12 Jahren bei Daniel Faul nach, ob er ihre Kinder nicht mit dem Impfstoff für über 12-Jährige impfen kann. „Diese Frage kommt immer wieder“, berichtet der Stuttgarter Kinderarzt. „Das würde ich aber nie anbieten“, stellt Faul klar. Schon aus Haftungsgründen, denn ohne Zulassung und Empfehlung haftet der Arzt für etwaige Nebenwirkungen und Folgeschäden. „Da begibt man sich als Arzt bei einer so wenig gefährdeten Patientengruppe auf sehr dünnes Eis“, sagt auch sein Reutlinger Kollege Till Reckert.

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Erstellt:
18.09.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 15sec
zuletzt aktualisiert: 18.09.2021, 06:00 Uhr

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