Ampel · Regierungsbildung

Sondierer im Bund einigen sich auf Reformprojekte

Kein Tempolimit, höherer Mindestlohn, Kohleausstieg am besten vor 2030: Darauf haben sich SPD, FDP und Grüne verständigt.

16.10.2021

Von Ellen Hasenkamp, Igor Steinle, Dorothee Torebko

Gute Aussichten für Senioren: Das Renteneintrittsalter soll laut SPD, Grünen und FDP nicht steigen, die Bezüge sollen nicht gekürzt werden. Foto: Volker Derlath

Gute Aussichten für Senioren: Das Renteneintrittsalter soll laut SPD, Grünen und FDP nicht steigen, die Bezüge sollen nicht gekürzt werden. Foto: Volker Derlath

Berlin. Es hat eine Nachtsitzung gebraucht, doch dann ging es morgens ganz schnell. Nach vierstüdigen Gesprächen präsentierten die Spitzen von SPD, FDP und Grünen die Grundlage für die anstehenden Koalitionsverhandlungen. Von einem „sehr guten Ergebnis“ sprach der womöglich nächste Bundeskanzler, Olaf Scholz. Das sind die wichtigsten Punkte.

Arbeit und Rente: Die Sondierer wollen den gesetzlichen Mindestlohn im ersten Jahr „in einer einmaligen Anpassung auf zwölf Euro pro Stunde erhöhen“. Hier haben sich SPD und Grüne gegenüber der FDP durchgesetzt. FDP-Chef Christian Lindner beschwichtigte, man habe der Erhöhung des Mindestlohns im Sinne eines Gebens und Nehmens entsprochen. Hartz IV wollen die Sondierer abschaffen und durch ein Bürgergeld ersetzen. Dieses soll „digital und unkompliziert zugänglich sein“. Hierzu soll geprüft werden, ob die in der Pandemie eingeführten großzügigen Regelungen etwa zu Schonvermögen fortgeführt werden.

Rentnern wird zugesichert, dass es keine Kürzungen und keine weitere Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters über 67 Jahre hinaus geben wird. Um die Altersvorsorge abzusichern, wollen die Parteien in eine „teilweise Kapitaldeckung der Gesetzlichen Rentenversicherung einsteigen“. Als ersten Schritt soll der Bund 2022 zehn Milliarden Euro als „Kapitalstock“ an die Rentenversicherung überweisen.

Klimaschutz: Bei den Vorhaben zum Klimaschutz fällt auf, dass zentrale Forderungen der Grünen wie ein höherer CO2-Preis oder das Tempolimit nicht berücksichtigt wurden. Stattdessen heißt es gleich zu Beginn, dass „neue Geschäftsmodelle und Technologien klimaneutralen Wohlstand und gute Arbeit schaffen können“. Mit einem Klima-Sofortprogramm für alle Sektoren, also Verkehr, Bauen, Wohnen, Stromerzeugung, Industrie und Landwirtschaft, das es aber geben soll, wäre eine Kernforderung der Grünen erfüllt.

Hürden und Hemmnisse sollen aus dem Weg

Der Ausbau erneuerbarer Energien soll zudem „drastisch“ beschleunigt werden, alle „Hürden und Hemmnisse“ sollen dafür aus dem Weg geräumt, Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigt werden. Zwei Prozent der Landesfläche sollen für die Windkraft ausgewiesen werden. „Alle geeigneten Dachflächen sollen künftig für die Solarenergie genutzt werden“, heißt es zudem. Für Gewerbe solle dies verpflichtend sein, für private Gebäude „die Regel werden“.

Im Papier wird festgestellt, dass für das Einhalten der Klimaschutzziele ein schnellerer Kohleausstieg nötig sei. „Idealerweise“ müsse dieser vor 2030 stattfinden. Die finanziellen Hilfen für die Kohleregionen sollen deswegen vorgezogen werden. Um die Kohle zu ersetzen, sollen Gaskraftwerke gebaut werden, die zukünftig mit Wasserstoff betrieben werden können.

Verkehr: Beim Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor hielten sich die Sondierer an die EU-Vorgaben. Die EU-Kommission hatte vorgeschlagen, dass in Europa ab 2035 nur noch CO2-neutrale Fahrzeuge zugelassen werden. Die Grünen hatten einen Verbrenner-Ausstieg 2030 gefordert.

Digitalisierung: Das Papier beginnt mit diesem Punkt: Bei der Modernisierung und Digitalisierung des Staates plädieren die Parteien für einen grundlegenden Wandel. Es gehe darum, „das Leben einfacher zu machen“. Verwaltungsvorgänge sollen beschleunigt werden. Ziel sei es, die Verfahrensdauer mindestens zu halbieren. Die Kompetenzen der Bundesregierung sollen dafür neu geordnet werden, heißt es reichlich unkonkret. Das kann ein Digitalministerium bedeuten, muss es aber nicht.

400 000 neue Wohnungen pro Jahr

Wohnen: Ziel ist es, 400 000 neue Wohnungen pro Jahr zu bauen, davon sollen 100 000 öffentlich gefördert werden.

Gesellschaft: Auf diesem Feld stehen viele und weitreichende Veränderungen an: Das Wahlrecht soll für Bundestags- und Europawahlen auf 16 Jahre gesenkt, die Diskriminierung wegen sexueller Identität grundgesetzlich verboten werden. Gut integrierte Zuwanderer sollen künftig leichter die deutsche Staatsangehörigkeit oder zumindest einen gesicherten Aufenthaltsstatus erlangen. Auch der Wechsel von einem Asyl- in ein Einwanderungsverfahren, gegen den die Union sich stets gesträubt hatte, soll künftig möglich sein. Zudem soll zusätzlich zu den bestehenden Verfahren ein Punktesystem eingeführt werden, um mehr Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen. Mehrere in der Großen Koalition gescheiterte Vorhaben werden wiederaufgenommen; der Begriff „Rasse“ soll aus dem Grundgesetz verschwinden und ein Demokratiefördergesetz kommen.

Finanzen: Wie das Ganze finanziert werden soll, ist völlig unklar. Eine Aufweichung der grundgesetzlichen Schuldenbremse wird es jedenfalls nicht geben. Es werden weder Steuern erhöht noch sollen neue Steuern eingeführt werden. Als mögliche Finanzierungsquellen werden der Kampf gegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche angegeben. Zudem sollen zusätzliche Haushaltsspielräume gewonnen werden, indem umweltschädliche Subventionen – dazu zählt etwa die Diesel-Besteuerung – überprüft werden.