Geschichte

Skepsis, Kritik, Verweigerung: Warum Impfquoten in Baden-Württemberg häufig niedrig ausfallen

In Baden-Württemberg fallen Impfquoten oft niedriger aus als in anderen Bundesländern. Das könnte historische Ursachen haben.

19.11.2021

Von Yasmin Nalbantoglu

Seit Beginn der Pandemie gingen immer wieder Menschen auf die Straße, um gegen die Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. Viele davon in Baden-Württemberg. Foto: Felix Kästle

Seit Beginn der Pandemie gingen immer wieder Menschen auf die Straße, um gegen die Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. Viele davon in Baden-Württemberg. Foto: Felix Kästle

Ulm. Baden-Württemberg liegt hinten. Ist oftmals sogar Schlusslicht. Daten des Robert-Koch-Instituts zeigen: Impfquoten sind häufig niedriger als in anderen Bundesländern. Was Corona betrifft, weisen aktuell zehn Bundesländer eine höhere Gesamtimpfquote auf als Baden-Württemberg.

Auch bei anderen Infektionserkrankungen zeigt sich die Impfzurückhaltung: Bei Masern lag die Impfquote der zwei Mal geimpften Kinder bei der Schuleingangsuntersuchung 2017 im Land bei 89,1 Prozent. In allen anderem Bundesländern lag sie bei über 90 Prozent. Diphtherie: 89,2 Prozent in Baden-Württemberg. Auch hier liegt die Impfquote in jedem anderen Bundesland bei über 90 Prozent. Tetanus, Polio – dasselbe Muster. Ist das ein Zufall?

Nein, glaubt Historiker Reinhold Weber. Der 52-Jährige ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Tübingen. Die hiesige Impfskepsis könne man historisch herleiten. „Dazu gibt es keine genaue Empirie. Aber eine Sache kann man mit relativer Sicherheit anführen: Anthroposophen sind in Südwestdeutschland stark verankert.“ Das liege auch daran, dass Rudolph Steiner, Begründer der Anthroposophie, seinen Schwerpunkt in Stuttgart und dem heutigen Baden-Württemberg hatte. Kritik an der klassischen Medizin, Sympathie mit Naturmedizin und Homöopathie – das seien klassische anthroposophische Eigenschaften, die das Land geprägt haben.

Impfskepsis, die aktuell vor allem gegen die Covid-19-Impfung geäußert wird, vorher aber schon gegen die Masern-Impfung laut geworden war, sei kein neues Phänomen. Allein anthroposophische Prägungen reichen als Erklärung aber nicht. Die Gruppe der Impfkritiker sei nicht homogen, erklärt Weber. „Ein Stück weit ist das auch Pietismus. Darin steckt immer eine Wissenschaftskritik und eine Kritik am Staat.“

Im 17. und 18. Jahrhundert entwickelten Pietisten ein Misstrauen Obrigkeiten gegenüber, auch weil die Bewegung in Abgrenzung zur offiziellen Amtskirche und deren Obrigkeit gegründet wurde. Herrschende wurden kritisiert, Protestbewegungen sind entstanden. „Viele Forscher, Politologen und Zeithistoriker sagen: Baden-Württemberg ist traditionell ein Protestland. Ich glaube, an diesem Narrativ ist was dran.“ Ein Beispiel dafür seien die Proteste gegen das Projekt Stuttgart 21 der Deutschen Bahn. Aber auch die Querdenken-Bewegung, die ihre Ursprünge in Baden-Württemberg hat. Michael Ballweg, Kopf der „Querdenker“, ist in Stuttgart beheimatet.

Die Corona-Impfkampagne, erklärt Weber, werde von vielen als „staatlich verordnet“ interpretiert, was zur Kritik an der Regierung führe. Grundsätzlich sei diese Eigenschaft pauschal aber keine negative. Im Gegenteil. Sich politisch einzubringen, Dinge zu hinterfragen und wenn nötig auch zu protestieren – all das sind notwendige Grundsteine der Demokratie. Vor mehreren Hundert Jahren, als das heutige Baden-Württemberg noch aus vielen kleinen Herrschaftsterritorien bestand, sorgte diese Eigenschaft dafür, dass sich die Mächtigen mit dem Volk einigen mussten.

Aufklärung statt Impfpflicht

Die Gefahr daran: Aus Staats- und Wissenschaftskritik könne eine schwierige Nähe zu Verschwörungsmythen entstehen. „Das ist dann Querdenken.“ Dass die pandemischen Maßnahmen in den Alltag und auch in das Berufs­­leben vieler Menschen eingegriffen haben, habe Diskussionen über Grund- und Freiheitsrechte angestoßen. „Ich will nicht sagen, dass alle Querdenker Pietisten sind. Und auch nicht, dass Pietisten per se Querdenker sind. Aber der Staat hat in das Leben von Bürgerinnen und Bür­­ger eingegriffen. Das hat eine Protesthaltung entfacht.“

Reinhold Weber lehrt an der Uni Tübingen. Foto:Simon Wagner

Reinhold Weber lehrt an der Uni Tübingen. Foto:Simon Wagner

Trotz aller historischen Herleitungen sei es schwierig, die Impfskepsis im Land voll und ganz auf anthroposophische und pietistische Ursprünge zurückzuführen. Das liege vor allem daran, dass die Bevölkerung heute durch Zuwanderung divers ist. Impfgegner mit Migrationshintergrund hätten logischerweise andere Gründe für ihre Skepsis. Auch seien viele Impfkritiker in Baden-Württemberg heute keine Pietisten. „Das muss man auch nicht sein. Trotzdem gibt es eine pietistische Prägung, die über Generationen hinweg weitervermittelt wurde.“

Damit umzugehen sei nicht leicht. Eine Impfpflicht anzuordnen, sei es im Falle von Corona oder anderen Krankheiten, hält Weber für den falschen Weg. „Das würde die Protesthaltung verstärken.“ Aufklärung sei eine Lösung, um Staats- und Wissenschaftskritiker nicht die Schwelle zu Verschwörungsmythen, Querdenken und anderen gefährlichen Milieus überschreiten zu lassen. „Da gibt es einen Teil, der noch kommunikationsbereit ist. Den können Argumente zurückholen. Und es gibt einen Teil, der in dieser Abschottung verhärtet ist.“

66 Prozent sind geimpft

66 Prozent der Menschen in Baden-Württemberg sind aktuell aufgerundet gegen Corona geimpft. Fünf Bundesländer weisen eine niedrigere Impfquote auf. (Stand: 18.11.)

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Erstellt:
19.11.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 07sec
zuletzt aktualisiert: 19.11.2021, 06:00 Uhr

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