Bayreuther Festspiele

Showdown in der Kleinstadt

Kanzlerin Angela Merkel hatte natürlich eine Karte, andere Wagnerliebhaber erleben die Premiere des „Fliegenden Holländers“ als Livestream. Sensationell: Asmik Grigorian als Senta.

27.07.2021

Von JÜRGEN KANOLD

Ein die Verlobung anbahnendes Abendessen im Wintergarten: (von links)  John Lundgren als Holländer auf dem Rachefeldzug, Marina Prudenskaya (Mary), Georg Zeppenfeld (Daland) und Asmik Grigorian (Senta). Foto: Enrico Nawrath/Festspiele Bayreuth/dpa

Ein die Verlobung anbahnendes Abendessen im Wintergarten: (von links) John Lundgren als Holländer auf dem Rachefeldzug, Marina Prudenskaya (Mary), Georg Zeppenfeld (Daland) und Asmik Grigorian (Senta). Foto: Enrico Nawrath/Festspiele Bayreuth/dpa

Bayreuth. Sitzkissen dürfen nicht mit in das Festspielhaus genommen werden, auch keine „Gegenstände, die dem deutschen Waffengesetz unterliegen“. Schusswaffen, ja, die kommen nur auf der Bühne zur Verwendung, aber dazu später mehr.

Terrorgefahr herrscht schon seit Jahren bei den Bayreuther Festspielen, das Polizeiaufgebot orientiert sich offenbar an Staatsbesuchen; und immerhin kam ja Angela Merkel, in Orange – und zum letzten Mal als Bundeskanzlerin. Aber dann auch noch Corona: Strengste Sicherheitsauflagen in diesem Sommer auf dem Grünen Hügel, man geht nicht einfach mit einer Eintrittskarte zur Aufführung, man durchläuft einen „Registrierungsprozess“ und erhält final ein Einlassbändchen ums Handgelenk geklebt.

Das Freiluftbad Bürgerreuth, die Pausen-Oase vieler Wagnerianer abseits der teuren Steigenberger-Restauration, ist geschlossen, hinter den Zelten eines Testzentrums verschwunden. Das Foyer des Festspielhauses gehört zu den gesperrten Zonen, die Toiletten dürfen auch nicht benutzt werden. Es ist eher ungastlich in Bayreuth, kein Vergleich jedenfalls etwa zu Bregenz, wo hinter der Kontrollstation (geimpft, getestet, genesen) vor dem abgesperrten Festspielplatz normales Kulturleben herrscht, abstands- und maskenlos.

Okay, wer aber sowieso keine Premierenkarte für den „Fliegenden Holländer“ in Bayreuth ergattert hatte, konnte es sich am Sonntagabend auch einfach stressfrei zu Hause bequem machen, mit oder ohne Sitzkissen: und den Livestream auf BR-Klassik Concert anschauen. Keine Kontrollen, Getränke erlaubt. Man nimmt auch nicht fern der Bühne in Reihe 27 oder wie die Kanzlerin noch weiter hinten in der Königsloge Platz, sondern sieht den Sängern auch mal in Nahaufnahme ins Gesicht. Es gibt auch Untertitel zum Mitlesen, wenn die Akteure undeutlich artikulieren – im Festspielhaus ist das noch ein Sakrileg.

Und dass der Festspielchor sich aufteilen muss, die eine Hälfte coronabedingt nebenan im Chorsaal hinter Plexiglaskabinen singt und die andere Hälfte pantomimisch auf der Bühne spielt, ist natürlich kein Problem, wenn sowieso der Ton fürs Radio, für den Livestream aufgenommen und gemischt wird. Der Klang über Kopfhörer also: bestens.

Aber jetzt endlich zur Kunst. Richard Wagners romantische Oper „Der fliegende Holländer“, 1840 uraufgeführt, erzählt viele Geschichten, nicht nur ein Schauermärchen mit „Hojohohe!“-Matrosenchor. Da wäre zum Beispiel das Drama eines rastlosen Künstlers, der auf die spießige Umwelt flucht, aber auf Senta bauen kann, „das Weib der Zukunft“, das sich dem Manne aus Liebe hingibt. Oder die Kritik am Kapitalismus: Schließlich ist Sentas Vater Daland ein Geschäftemacher, der sogar seine Tochter an einen fremden Seefahrer verscherbelt.

Und dann wäre da Sentas Seelenheil zu durchleuchten. Claus Guth etwa inszenierte 2003 in Bayreuth einen Psychothriller: Das Mädchen Senta träumt davon, dass ein Skelett im Kapitänsmantel von der Decke fährt und sie tödlich packt. Da muss etwas passiert sein in der mutterlosen Familie – sexueller Missbrauch? In der Neuinszenierung von Dmitri Tcherniakov schleppt nun der Holländer ein böses Kindheitstrauma mit sich herum.

Es wird in der Ouvertüre bebildert: Der Junge muss mitanschauen, wie seine Mutter Sex hat mit einem fremden Mann – und er findet später ihre baumelnde Leiche, denn sie hat sich aus Verzweiflung erhängt, nachdem sie der Liebhaber verließ.

Thriller in Netflix-Manier

Viele Jahre später kehrt der Holländer nun zurück in diese nordische Hafenkleinstadt, um Rache zu nehmen. Bei Wagner suchte er noch nach Erlösung – aber vielleicht geht das für ihn nur so. Mit dem Libretto hat das wenig zu tun, der russische Regisseur und Bühnenbildner aber erzählt einen Thriller in realistischer Netflix-Manier. Es war offenbar Daland gewesen, der die Mutter des Holländers in den Tod getrieben hatte. Und so macht sich dieser jetzt an Senta heran. Die ist freilich ganz happy, dass endlich jemand sie aus der heimischen Spießerhölle befreit. Sie hat sich ja bekanntlich in das Bild des Holländers verliebt, es ist ihr Traummann – wie sie zu dem Foto von ihm freilich kam, bleibt offen. Vieles passt nicht zusammen.

Doch es kommt zum Showdown, der Holländer und seine fiese Truppe knallen wahllos die Menschen im Kiez ab, stecken Dalands Haus in Brand. Und dann muss ausgerechnet Mary, eigentlich Sentas Amme und hier ihre Mutter und die Leiterin des örtlichen Frauenchors, mit dem Gewehr den Holländer erschießen. Senta stürzt sich folglich nicht ins Meer: „Preis' deinen Engel und sein Gebot!/Hier steh' ich, treu dir bis zum Tod!“ Vielmehr fällt sie Mary (sehr überzeugend: Marina Prudenskaya) in die Arme. Diesmal werden die Frauen erlöst.

Was eigentlich gut passt. Denn zum ersten Mal nach 145 Jahren dirigiert eine Frau bei den Bayreuther Festspielen: Oksana Lyniv. Die Ukrainerin kommt hervorragend mit den Verhältnissen im Festspielhaus zurecht (jedenfalls nach dem Livestream-Klang zu urteilen). Sie treibt das Drama mit straffem Tempo an, zeigt Härte, setzt weniger auf heitere Verspieltheit, auf romantische Sinnlichkeit – was ja in dieser Wagner-Oper auch angelegt ist. Es ist allemal ein spannendes, mitreißend musikalisches Debüt.

Triumph der Frauen

Gefeiert auch: die litauische Sopranistin Asmik Grigorian: Sie spielt die aufbegehrende Senta und singt mit belcantischen Farben wie jugendlich-verschwenderischer Strahlkraft. Die Ballade ertönt wie die Kampfansage einer Frau, die sich aufmachen will in die Welt. Fantastisch. Leider macht die Regie nicht mehr aus dieser Figur. Schauspielerisch eindrucksvoll, ganz der freundlich herrische Psychopath: John Lundgren als Holländer; doch stimmlich zeigte der Charakterbariton einige Schwächen. Dazu der beliebt sonore Georg Zeppenfeld als biederer Daland, Erik Cattler als Erik (mal kein Senta-Verlobter als Trauerkloß) und Attilo Glaser als Steuermann.

Großer Jubel, aber nur im Festspielhaus. Vor dem Laptop klatscht man selten. Für Wagner-Liebhaber gilt: Der Live-Besuch, mit oder ohne Rostbratwürste in der Pause, bleibt das wahre Bayreuth-Erlebnis. Das sagt sich ja auch Bundeskanzlerin Merkel.

Letztmals als Bundeskanzlerin in Bayreuth dabei: Angela Merkel und ihr Mann Joachim Sauer. Foto: Daniel Karmann/dpa

Letztmals als Bundeskanzlerin in Bayreuth dabei: Angela Merkel und ihr Mann Joachim Sauer. Foto: Daniel Karmann/dpa