FC Bayern

Selbstbewusst aus dem Schatten

Im Sommer dachte Sven Ulreich daran, den Meister zu verlassen. Jetzt steht er im Blickpunkt, weil er Stammtorwart Manuel Neuer längerfristig vertreten muss.

22.09.2017

Von RAIMUND HINKO

Schwabe im Bayern-Tor: Sven Ulreich. Foto: afp

Schwabe im Bayern-Tor: Sven Ulreich. Foto: afp

München. Als ob es nicht schon genug Schlagzeilen gäbe, wenn man auf einmal Manuel Neuer vertreten muss, den besten Torwart der Welt. Wie am Dienstag beim 3:0 auf Schalke, wie heute in der Münchner Arena gegen den VfL Wolfsburg. Das in Gelsenkirchen hat Sven Ulreich gut hinbekommen. Das gegen Wolfburg sollte ihm auch gelingen. Aber Ulreich in Paris gegen Neymar, den teuersten Fußballer der Welt, gegen die kaum minder schlechteren Torjäger Edison Cavani und Kylian Mbappé – da sind noch größeren Schlagzeilen garantiert. Egal, ob Ulreich als Held der Champions League gefeiert wird. Oder als Versager gegeißelt.

Seit 2015 sitzt Sven Ulreich (29) auf der Bayern-Bank. Weit weit hinter Manuel Neuer (31), der auch noch zum Kaptiän aufstieg, beim FC Bayern und in der Nationalelf. Der sich zum dritten Mal das äußerste Knöchlein des linken Mittelfußes gebrochen hat. Dem jetzt in Tübingen eine Titanplatte eingesetzt wurde, um im Frühjahr 2018 wieder fit zu sein, um die WM-Teilnahme in Russland nicht zu gefährden.

Als Frührentner verspottet

Ulreich muss alles ausblenden. Höchstens auf die Stimmen der Mutmacher hören. Weniger an diejenigen denken, die ihn als Frührentner verspottet haben, als vom VfB Stuttgart nach München kam. Weil er lernen wollte bei Neuer und Torwarttrainer Slobodan Topalovic, nicht ein gemütliches Leben führen im Schatten der scheinbar unverwundbaren Nummer eins. Je lauter er sagte: „Ich wollte mich doch neben dem besten Torwart der Welt weiter verbessern“, desto öfter wurde diese Worte überhört.

Er selbst würde so gern noch auf seinen Vater hören. Für Dietrich Ulreich hörte er beim TSV Schorndorf auf, im Feld zu spielen, begrub auch seine Ambitionen als Handballer. Da der Vater Torwart war, ließ sich Klein-Sven von ihm trainieren. Schnell war der Kleine aus Schorndorf so groß, dass ihn der VfB lockte. Gepriesen als größtes Torwarttalent seit Jahrzehnten, Nachfolger von Jens Lehmann, konnte Ulreich jedoch kaum überhören, was man ihm mit 25 plötzlich zuflüsterte. Man würde ihm keine Steine in den Weg legen, wenn er wechseln wollte. Da kam der Ruf aus München mehr als gelegen.

Dietrich Ulreich war längst verstorben, als Sven Karriere machte. Stolz wäre der Vater jetzt, wenn er sehen könnte, dass sein Sohn einen Volleyschuss von 222-Millionen-Euro-Neymar hält. Wenn der Ball dennoch einschlagen sollte im Bayern-Tor, würde der Vater sagen: „Macht nichts Junge, gegen Neymar hatte auch Neuer schon das Nachsehen.“

Das Gute an der Personalie Sven Ulreich ist, dass er mit 29 nicht zerbrechen würde an einer Lehrstunde des pfeilschnellen Neymar, der schießen kann ohne mit dem Bein auszuholen. Ulreich ist kein hochgelobtes Talent mehr, sondern ein gestandener Familienvater. Seine Frau Lisa ging noch ein halbes Jahr ihrem Beruf als Grundschullehrerein nach, ehe sie nach München zog. Seit 20 Monaten sind sie stolze Eltern von Tochter Malia.

Dass Neuer nicht unverletzbar ist, hatte Ulreich schon zum Ende der vergangenen Saison erlebt. Er debütierte am 1. April beim 6:0 gegen den FC Augsburg, fuhr mit Bayern die Meisterschaft ein, während Neuer auf Krücken zum Meisterfoto humpeln musste.

Ulreich ist keineswegs nur bei Neuer, dem Stammtorwart, beliebt. Die Mannschaft mag ihn. Sie lässt ihn nicht spüren, dass jetzt eine Verunsicherung da ist, wenn der vermeintlich Unbesiegbare nicht im Kasten steht.

Der Trainer vertraut ihm

Es mag sogar von Vorteil sein, wenn sich die zuletzt nicht immer sattelfeste Abwehr nicht drauf verlässt, dass es Neuer schon richten wird. Dass Mats Hummels, Jerome Boateng und Kollegen noch konzentrierter zur Sache gehen, als es zuletzt den Anschein hatte.

Es liegt in der Natur des Trainers Carlo Ancelotti, dass er trotz berechtigter Sorgen nicht jammert. „Wir müssen zwar den besten Torwart der Welt ersetzen“, sagt der Italiener, „aber Sven hat uns noch nie im Stich gelassen“.

Ulreich wird nie vergessen, wie Neuer beim Abschlusstraining vor dem Spiel gegen Mainz aufgeschrien hat: „Bei einer Allerweltsaktion“, sagt der Schwabe. „Auf einmal ist er in die Kabine gegangen.“ Ulreich gibt sich selbstbewusst: „Ich weiß, dass ich Manu gut vertreten kann. Dass ich der Mannschaft gut helfen kann. Das steht jetzt über allem.“

Wer weiß, wie lange er noch als Nummer eins im Tor des Rekordmeisters steht. Eine kleine Schraube, ein kleines Plättchen im Fuß, vermutlich eine weit größere Last im Kopf für Neuer. Da war es klug von Bayerns Doppelspitze Uli Hoeneß/Karl-Heinz Rummenigge, dass sie im Sommer Ulreich die Freigabe verweigerten. Er wollte wieder die Nummer eins sein. Ein Traum, der sich zunächst erfüllt hat.