Auch in Tübingen liegt das Meer vor der Haustür

Seit fast 60 Jahren kämpfen die Segler der Marinejugend mit Wind und Wasser auf dem Neckar

Kein See, kein Meer, kein Hafen – und trotzdem hat Tübingen eine Marinejugend. Seit 1957 segeln deren Mitglieder nicht nur über den Neckar. Dem TAGBLATT verrieten sie, was den Reiz des Wassersports ausmacht. Und warum das heute, anders als früher, nichts mit Militär zu tun hat.

21.08.2016

Von Philipp Koebnik

In ruhigen Gewässern: Luis Brinkmeyer (links), Lorenz Terner und seine Schwester Thea segeln fast jeden Samstag zwischen Neckarbrücke und Stauwehr. Bild: Koebnik

In ruhigen Gewässern: Luis Brinkmeyer (links), Lorenz Terner und seine Schwester Thea segeln fast jeden Samstag zwischen Neckarbrücke und Stauwehr. Bild: Koebnik

Kopf einziehen“, warnt Steuermann Eike Kemm die Mitfahrenden. Der „Baum“ – so heißt die waagerechte Stange, an der das große Segel befestigt ist – wechselt langsam die Seite und streift dabei das Haar der Insassen. Das Boot neigt sich und dreht am Ufer vorbei. Dann geht es weiter in die andere Richtung.

Es ist eines der ersten Dinge, die der angehende Nautiker bei der Tübinger Marinejugend lernt: Segelboote lassen sich in der Regel nicht vom Wind schieben, sondern schippern ihm entgegen. Dadurch, dass das Vorsegel das Großsegel ein wenig überlappt und den Wind darauf leitet, entstehe ein Düseneffekt: „Vor- und Großsegel erzeugen durch ihr bauchiges Profil einen Vortrieb, ähnlich wie die Tragflächen eines Flugzeugs“, erklärt die erfahrene Seglerin Karin Gengenbach-Jung. Will der Steuermann allerdings ein Ziel erreichen, das im Gegenwind liegt, geht das nicht auf direktem Weg. Er muss „aufkreuzen“, indem er Wenden fährt, das Ziel also im „Zickzackkurs“ anläuft.

Wassersport für jene, die nicht an der Küste leben

Vor 59 Jahren wurde die Marinejugend Tübingen ins Leben gerufen – der erste Eintrag ins Logbuch datiert vom 2. Oktober 1957. Inhalt: Die Namen der Gründungsmitglieder. Seither führte der Verein bei allen Treffen und sonstigen Veranstaltungen gewissenhaft Buch. Neben Fotos finden sich darin auch Zeichnungen, etwa von Seemannsknoten und Segeltechniken.

Dachorganisation ist die Deutsche Marinejugend. Matrosen der Handels-Schifffahrt gründeten sie vor rund 100 Jahren. Früher diente der Verein nicht zuletzt dazu, Nachwuchs für die Kriegs- und Handelsmarine zu rekrutieren. Noch in den 1960er Jahren trugen die Vereinsmitglieder Uniformen. Das hat sich geändert. Heute geht es nicht um eine berufliche Vorbildung – weder in der zivilen, noch in der militärischen Seefahrt. Im Vordergrund steht der Wassersport. „Auch Jugendliche, die nicht an der Küste leben, sollen die Möglichkeit haben, den Wassersport zu erlernen“, sagt Gengenbach-Jung. „Hier am Neckar geht das ohne großen Aufwand – schließlich können es sich nicht alle leisten, mit einem eigenen Boot auf dem Bodensee zu segeln.“ Mit Jahresbeiträgen zwischen 30 und 50 Euro handelt es sich durchaus um ein bezahlbares Hobby.

Wenngleich ungewollt, hat der Name des Vereins einen militaristischen Klang. „Wir haben uns immer wieder Gedanken darüber gemacht, ihn zu ändern“, sagt Gengenbach-Jung. Warum sie sich nicht einfach „Seglerverein“ nennen? „Wir segeln ja nicht nur“, sagt sie. „Mit unserem Kutter rudern wir auch.“ Ein besserer Name sei ihnen jedoch bislang nicht eingefallen. Der aktuelle ist noch aus einem weiteren Grund irreführend, denn nicht alle Vereinsmitglieder sind im Jugendalter. Eike Kemm zum Beispiel ist seit rund 30 Jahren dabei. Gemeinsam mit dem jetzigen Vereinsvorsitzenden Bernd Reinmuth fuhr er früher Regatten. Inzwischen bringt er meist seinen neunjährigen Sohn Hendrik mit.

Wer nicht weiß, wo die Marinejugend ihren Sitz hat, wird sie kaum zufällig entdecken. Ihr Anleger versteckt sich zwischen dem Parkhaus in der Wöhrdstraße und dem Casino. Der Aktionsradius der Tübinger Segler ist überschaubar. Stromabwärts setzt das Stauwehr die Grenze, stromaufwärts geht es nur bis zur Neckarbrücke, unter der die Boote wegen ihres Masts nicht hindurchpassen. Regelmäßig unternimmt der Verein darüber hinaus Segel-Zeltlager, etwa am Bodensee.

Jolle, Schwert und Fock

– kleine Begriffskunde

Als es vor bald 60 Jahren losging, hatte der Verein um die 15 Mitglieder. Heute sind es zehn Aktive. Die Atmosphäre ist entsprechend familiär. „Wenn es zeitlich passt, kommen wir zusammen her“, sagt Thea Terner. Die 17-Jährige aus Entringen segelt regelmäßig mit ihrem Bruder Lorenz – so wie kürzlich, als auch das TAGBLATT dabei war.

Seit rund sieben Jahren schon betreiben die beiden den Sport zusammen. Ob es nicht ungewöhnlich sei, dass Geschwister so viel Zeit miteinander verbringen? „Wir machen auch Judo, da gleicht sich manches aus“, antwortet der 15-Jährige trocken.

Bevor es aufs Wasser geht, checken die Jugendlichen, ob die Boote vollständig ausgerüstet sind. Dann fahren die ersten los. Gengenbach-Jung und Kemm laden auch den Reporter dazu ein, eine Fahrt auf einer Jolle zu wagen. Jollen sind meist vier bis viereinhalb Meter lang, haben zwei Segel und ein „Schwert“ statt eines Kiels. Es reicht ins Wasser hinein und verleiht dem Segelboot Halt und Führung.

Zu dritt in einer Jolle – das ist eng, aber nicht unmöglich. Fotokamera und Handy bleiben vorsichtshalber an Land. Dann geht es los – stromabwärts in Richtung Stauwehr. Ein Kommando jagt das nächste. „Klar zur Wende“, ruft Steuermann Kemm. „Ist klar“, antwortet Gengenbach-Jung. Sie bedient das Vorsegel, die sogenannte Fock. „Über die Fock“, sagt Kemm, kurz bevor das Segel die Seite wechselt. Wieder neigt sich das Boot recht stark. Für einen kurzen Moment fürchtet der Reporter, sein Schreibblock werde den Tag nicht trocken überstehen. Doch die beiden alten Hasen haben das Boot voll im Griff. Auch die Jugendlichen kommen gut mit Wind und Wasser zurecht, wie es aussieht – zumindest lachen sie viel.

Es ist einiges los auf dem Neckar an diesem Samstag: die Segler der Marinejugend sowie einige Ruderboote, dazwischen schlängeln sich Stehpaddler und Stocherkähne entlang. Der Vorteil der Segler: Sie haben immer Vorfahrt – gegenüber motorisierten ebenso wie gegenüber Paddelbooten. Für eine Regatta ist der Verkehr auf dem Neckar heutzutage zu stark – die bislang letzte liegt rund 20 Jahre zurück.

Plötzlich kreuzen gefiederte Paddler den Weg. „Für die Enten und andere Tiere ist Segeln der schonendste Wassersport“, sagt Gengenbach-Jung. „Jedes Tretboot ist lauter und macht mehr Action als wir, denn wir gleiten förmlich dahin.“ Langsam wendet das Boot, um wieder zurück zu schippern zum Anleger am Parkhaus.

Auf einmal kommt der Wind von hinten. Jetzt ist es an der Zeit für einen „Schmetterling“: Beide Segel werden seitlich aufgespannt, sodass der Wind das Boot schiebt. Beachtlich schnell geht es nun voran. Doch dann die Enttäuschung: Schon lässt der Wind nach. Kurz darauf bewegt sich das Boot kaum mehr von der Stelle. Jedoch ist zur Not immer ein Ruder an Bord – um voranzukommen, wenn ausnahmsweise gar kein Wind weht. Schon fragt Kemm, ob er das Not-Paddel zücken soll. Doch Gengenbach-Jung weiß: „Kommt Zeit, kommt Wind.“ Und sie behält recht. Nur wenige Augenblicke später geht es weiter.

Anfänger lernen das

Segeln auf „Optimisten“

Die kleinsten Boote mit nur einem Segel heißen „Optimisten“. Man kann alleine oder zu zweit damit fahren. Auf ihnen lernen die Anfänger das Segeln. Da sie recht breit sind, ist ein Kentern unwahrscheinlich – „eine stabile Sache“, so Gengenbach-Jung. Neben sechs solcher Optimisten nennt der Verein drei Jollen, einen rund fünf Meter langen Korsar und einen Kutter sein Eigen – und einen Cadet, der noch aus der DDR stammt. Er ist etwas größer als ein Optimist.

Es reicht jedoch nicht, die Segel richtig setzen zu können. Wer bei der Marinejugend mitmachen will, muss noch einiges mehr lernen. Es geht darum, Traditionen weiterzugeben – beispielsweise die seemännischen Knoten, derer es über 5000 gibt. „Normalerweise braucht man aber nur acht bis zehn“, so Reinmuth. Was der Clou an den Seemannsknoten ist? Auch wenn sie sehr festgezogen sind, lassen sie sich wieder öffnen.

Außerdem lernen die jungen Seglerinnen und Segler, Manöver zu fahren. Denn sie nehmen auch an Regatten und am Seemännischen Fünfkampf teil, den der Landesverband einmal pro Jahr ausrichtet. Ob es dazu gehöre, auch mal zu kentern? „Ich bin noch nie unabsichtlich gekentert“, entgegnet Lorenz Terner stolz. Mit Absicht hingegen schon häufiger, „um das Aufrichten des Bootes zu üben“.

„Vom Neckar aus sieht man Tübingen ganz anders“, sagt Luis Brinkmeyer. „Der Wandel mit den Jahreszeiten ist interessant zu beobachten.“ Der 15-Jährige segelt nicht nur, er angelt auch gern. Dennoch: Es sind die „actionreichen“ Augenblicke, die den Reiz des Sports ausmachen, da sind sich die Jugendlichen einig. „Bei starkem Wind, wenn das Boot so schräg liegt, dass das Wasser schon rein läuft – das sind die besten Momente“, sagt Thea Terner mit leuchtenden Augen.

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Erstellt:
21.08.2016, 21:14 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 06sec
zuletzt aktualisiert: 21.08.2016, 21:14 Uhr

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