Berlinale

Sein und Zeit und Gabelstapler

Der deutsche Film „In den Gängen“ hat dem Wettbewerb zum Abschluss einen Höhepunkt beschert. Heute werden die Bären vergeben.

24.02.2018

Von MAGDI ABOUL-KHEIR

Ja, schon wieder Franz Rogowski: Hier ist der 32-jährige Darsteller mit Sandra Hüller in dem wunderschönen deutschen Film „In den Gängen“ zu sehen. Ob es dafür einen Bären gibt? Foto: Anke Neugebauer/Sommerhaus Filmproduktion/Berlinale/dpa

Ja, schon wieder Franz Rogowski: Hier ist der 32-jährige Darsteller mit Sandra Hüller in dem wunderschönen deutschen Film „In den Gängen“ zu sehen. Ob es dafür einen Bären gibt? Foto: Anke Neugebauer/Sommerhaus Filmproduktion/Berlinale/dpa

Berlin. Man kann den Ausgang von Wahlen prognostizieren und sich womöglich irren. Man kann das Wetter vorhersagen und vielleicht im Regen stehen. Und man kann die Preisvergabe der Berlinale vorhersehen – und wird sich garantiert irren. Wenn am Samstagabend im Berlinale-Palast die Bären dieser 68. Internationalen Filmfestspiele vergeben werden, ist eines sicher: Es gibt Überraschungen. Wie jedes Jahr.

Mit „In den Gängen“ erlebte der Wettbewerb am Freitag zum Abschluss aber noch einen Höhepunkt. Thomas Stuber, vor Jahren Absolvent der Filmakademie Ludwigsburg, hat eine Geschichte von Clemens Meyer auf die Leinwand gebracht. Die ist nicht einmal 30 Seiten stark, aber welch' tolle zwei Stunden Kino sind daraus geworden!

Die Geschichte spielt in einem Großmarkt, Franz Rogowski, Sandra Hüller und Peter Kurth kurven als Arbeiter auf Gabelstaplern herum und in die Herzen der Zuschauer. Es geht um das kleine Glück und das nicht so kleine Unglück im Alltag, um Nähe und Achtsamkeit, um Anerkennung und Freundschaft, um sonst unsichtbare Orte der Gesellschaft. Behutsam geht dieser Film mit seinen Figuren um, und in den Gängen, zwischen Regalen und Lagern entsteht dabei eine ganze, ein ganz eigene Welt.

Dass zumindest einer der vier deutschen Filme im Wettbewerb ausgezeichnet wird, ist also gut möglich. Zumal Christian Petzolds zwischen den Zeiten angesiedelte Exilanten-Geschichte „Transit“ ebenso ein Höhepunkt war. Auch darin spielt der in Tübingen aufgewachsene Franz Rogowski die Hauptrolle – der Darsteller-Preis für den charismatischen 32-Jährigen liegt nahe. Aber ob die Jury mit Präsident Tom Tykwer das auch so sieht?

Für einen Darstellerinnen-Bären wird Emily Atefs „3 Tage in Quiberon“ gehandelt: Marie Bäumer verkörpert Romy Schneider in all ihrer widersprüchlichen Faszination. Allerdings ist die Konkurrenz in der Schauspielerinnen-Kategorie enorm, etwa in Gestalt von Alba Rohrwacher („Figlia Mia“).

Und dann ist da noch der vierte deutschen Wettbewerbs-Film. An Philip Grönings „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“ sollte der Bär für den nervigsten Film gehen. Drei Stunden dauert das Werk: Ein Zwillingspärchen verbringt zwei Tage und zwei Nächte in einer und um eine abgelegene Tankstelle, provoziert und prügelt sich, philosophiert und diskutiert. Der Mix aus Inzest und Irrsinn, Gedankenspielen und Gewalt, Heidegger und Hirnfürzen wirkt fast wie eine Parodie auf bedeutungsschwangeres Arthouse-Kino.

Aber zurück zu echten Bären-Favoriten. Keinesfalls sollte man Wes Andersons umjubelten „Isle of Dogs“ außer Acht lassen, auch wenn der Animationsstreifen als Eröffnungsfilm der Berlinale fast schon in Vergessenheit geraten sein könnte.

Dann ist da noch Lav Diaz. Der philippinische Regisseur, geachtet und gefürchtet für seine Endlosfilme, war diesmal mit einem während der Marcos-Diktatur spielenden Drama dabei. Mit nur knapp vier Stunden Dauer ist „Season of the Devil“ für Diaz aber fast schon ein Kurzfilm.

Ein Werk, an dem die Jury nicht vorbeikommen sollte, ist der rumänische „Touch Me Not“: Ein Frau hat eine tiefliegende Angst vor Berührungen. Dem stellt sie sich, in Gesprächen, in einer Therapie, in Begegnungen mit Menschen, die extreme Formen sinnlicher Körperlichkeit ausleben. Der Film ist eine formal strenge, radikale, furchtlose Erkundung von Sexualität.

Die beste Mutterfigur

Der Große Preis der Jury für „Touch Me Not“ wäre angemessen – aber letztlich ist jede Spekulation, wer welche Auszeichnungen bekommen könnte, müßig. Daher folgen hier noch ein paar eigene Kategorien.

Der Bär für die beste Mutterfigur geht an den iranischen Film „Khook“ (Schwein). Im Mittelpunkt steht der Filmregisseur Hasan, der unter einem Berufsverbot leidet, worauf seine Lieblingsdarstellerin mit einem seiner Konkurrenten dreht. Außerdem gibt es eine grausige Mordserie, bei der Filmemacher geköpft werden – Hasan ist gekränkt, dass er nicht bedroht wird, da andere Regisseure offenbar bedeutender sind. Da tröstet ihn seine Mutter: „Du kommst auch noch an die Reihe.“ Und im blutigen Finale hat Mama einen besonders denkwürdig-knalligen Auftritt. Kein Wettbewerbsbeitrag machte mehr Spaß und hatte mehr rockige Energie als diese Farce.

Der Bär für die besten Ohrfeigen (eine umkämpfte Kategorie) gebührt Hanna Schygulla. Wie sie im französischen Film „La Prière“ (Das Gebet) als Oberschwester einem jungen Mann, der von den Drogen wegzukommen versucht, eine Lektion erteilt, erweist sich als wirkungsvoll.

Der Bär für den unwürdigsten Stuss sollte man „Eva“ verleihen. Muss Isabelle Huppert denn jede Femme-Fatale-Rolle annehmen? Dieser psychologisch erratische Machtkampf zwischen einem jungen Möchtegernautor und einer Edelprostituierten hatte im Wettbewerb rein gar nichts verloren.

Der Bär für die verheerendste Sauf- und Kotz-Szene (noch eine enorm populäre Disziplin in diesem Jahrgang) geht an Joaquin Phoenix und Jack Black. In „Don't Worry, He Won't Get Far On Foot“ trinken sich die beiden eine Nacht lang durch Los Angeles. Das Ganze endet mit einem Autocrash. Phoenix spielt John Callahan, der mit 21 gelähmt im Rollstuhl landet und dank Anonymer-Alkoholiker-Treffen, spiritueller Weisheiten und Comic-Zeichnen ins Leben zurückfindet. Das ist von Gus van Sant jedoch arg vorhersehbar in Szene gesetzt und sollte keinen Bären abräumen. Aber wie gesagt: Überraschungen gibt es gewiss.

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Erstellt:
24.02.2018, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 33sec
zuletzt aktualisiert: 24.02.2018, 06:00 Uhr

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