Bayerische Staatsoper

Sehnliches Verlangen

Zubin Mehta (84) dirigiert im Livestream Schuberts C-Dur-Sinfonie. Das Publikum kann sich die Konzertgeräusche – ob Applaus oder Husten – dazu aus der „Soundmachine“ anklicken.

27.01.2021

Von JÜRGEN KANOLD

Silbern blau und violett ausgeleuchtet, aber ohne Publikum: Der 84-jährige Zubin Mehta dirigiert das Bayerische Staatsorchester im Münchner Nationaltheater. Foto: Wilfried Hösl

Silbern blau und violett ausgeleuchtet, aber ohne Publikum: Der 84-jährige Zubin Mehta dirigiert das Bayerische Staatsorchester im Münchner Nationaltheater. Foto: Wilfried Hösl

München. Das Pausenläuten ruft das Publikum in den Saal. Auftrittsapplaus, Gemurmel, ein langes „Psst!“ zum Sitznachbarn, ein Bonbonpapierrascheln. Die lange entbehrte Konzertatmosphäre! Nur dass wir gar nicht im wundervoll blau-silbern ausgeleuchteten Münchner Nationaltheater sitzen, sondern zu Hause vor dem Computer-Bildschirm.

Zubin Mehta, die Klassik-Legende, schleppt sich mühsam aufs Podium, nimmt aber leger auf einem schmalen, hochhackigen Stühlchen vor dem Orchester Platz und dirigiert wach, geschmeidig Strauss und Schubert. Die Reihe der „Montagsstücke“ der Bayerischen Staatsoper, die wie alle Bühnen seit November wegen des Lockdowns den regulären Spielbetrieb einstellen musste, bietet diesmal ein Akademiekonzert: als Livestream. Und wer möchte, der kann – schöner Gag – auf die „Soundmachine“ zugreifen: „Fühlen Sie sich mit diesen Geräuschen wie in der Oper!“ Auf heftigen, lungenkranken Husten oder das Handygeklingel verzichtet man jedoch gern.

15?000 Zuschauer weltweit

Staatsintendant Nikolaus Bachler trotzt Corona, mit viel Aufwand und nach allen Hygiene-Vorschriften und Sicherheitschecks ermöglicht er Live-Kunst – wenn auch ohne Publikum, im Internet. Anfang Dezember gab's die „Falstaff“-Premiere online (und kostenlos), am 13. Februar folgt der „Freischütz“. Und die „Montagsstücke“ bieten Konzerte, Oper oder auch Ballett.

Die Zugriffszahlen sind je nach Stück und Besetzung unterschiedlich. Eine „Bohème“ mit Jonas Kaufmann brachte es auf fast 50?000 Zuschauer, bei Zubin Mehta waren es jetzt 15?000 (und das Konzert steht noch als Video-on-Demand zur Verfügung). Seit Dezember erreichten die „Montagsstücke“ insgesamt rund 270 000 Menschen, teilt Pressesprecher Christoph Koch mit.

Der Livestream jedenfalls ist eine Alternative zu Radio, TV und Tonkonserven: in München mit verschiedenen Kameras gefilmt, klangvoll ausgesteuert. Und auch ein digitales Programmheft ist vorhanden.

Darin arbeitet sich Uwe Schweikert an der großen C-Dur-Sinfonie Franz Schuberts ab: Er schreibt von einem „dahinschleppenden Rest“ nach dem verzweifelten Zusammenbruch und der Generalpause im 2. Satz. Oder von der „rastlosen Motorik“ im 3. Satz. Oder vom „manischen Kehraus“ des Finales. Schubert hatte ewig mit dem Werk gerungen, war mit der erst nach seinem Tod entdeckten Sinfonie fast am übermächtigen Beethoven-Vorbild gescheitert und hatte dann doch seinen Weg gefunden. Ziemlich viel romantisches Drama. Zubin Mehta, der Superstar aus der Hochrisikogruppe, gehörte freilich nie zu den Dirigenten, die ins Disparate hineinstechen, kompositorische Wunden offenlegen.

Jetzt sitzt er da, marmoriert grandseigneurhaft, verklärt lächelnd, und formt unangreifbar großen Klang mit kleinen Gesten. Der „dahinschleppende Rest“ im Andante? Eher schnell und lässig vorwärtsgeschoben. Eine abgewogene, solide ausmusizierte Schubert-Sinfonie, in der die in der ersten Reihe platzierten Holzbläser Akzente setzen.

„Im Abendrot“

Zubin Mehta, in Mumbai geboren, gehört zu den Superstars, er war der Taktgeber der „drei Tenöre“ und von 1998 bis 2006 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper. Man kennt sich – und in München natürlich Richard Strauss. „Sehnliches Verlangen“ war das Konzert überschrieben, und es begann mit den „Vier letzten Liedern“. Camilla Nylund war die Solistin: mit voluminösem, flutendem Sopran. Konzertmeister Markus Wolf spielte traumhaft das Geigensolo. Und der bald 85-jährige Mehta ließ „im Abendrot“ einfach die spätromantische Weltabschiedsmusik strömen.

Am Ende herrscht beklemmende Stille im leeren Haus, nur die Musiker des Staatsorchesters klatschen. Zum Glück gibt's die Soundmachine: Also „Applaus“ drücken – angeboten wird auch eine Variante mit Fußgetrampel.