Theater

Schwankende Gestalten

Es wird auf den Bühnen geprobt, aber wenn der Lockdown weitergeht, liegen viele Produktionen auf Halde. Was tun? Premieren per Livestream, wie jetzt Sebastian Hartmanns „Zauberberg“.

24.11.2020

Von JÜRGEN KANOLD

Ein Tanz am Abgrund: „Der Zauberberg“, online, aus dem Deutschen Theater Berlin. Foto: Arno Declair Foto: Arno Declair

Ein Tanz am Abgrund: „Der Zauberberg“, online, aus dem Deutschen Theater Berlin. Foto: Arno Declair Foto: Arno Declair

Berlin. Sie ächzen, schreien, heulen gottserbärmlich. Sie keuchen in der Atemnot. Nackte Opfer marschieren über die Bühne, Schauspieler in schlabberigen Bodysuits, in retortenhaften Ganzkörperanzügen. Menschen im Räderwerk des Untergangs. Und auch ihre Gesichter: weiß geschminkt todesfahl.

Schnee im stürmischen Gebirge, eine grelle, heillose Welt. Sebastian Hartmann hat Thomas Manns „Zauberberg“ inszeniert – besser gesagt: sich an dem Roman abgearbeitet, darin den Stoff gefunden für eine sehr theatralische Abhandlung über die Frage „Was ist die Zeit?“. Konkreter: Wäre zum Beispiel keine Zeit, wenn es keine Bewegung gäbe?

Erste, banale Antwort: Auch im Lockdown herrscht an den Bühnen kein Stillstand. Ein starker Beweis: die „Zauberberg“-Premiere aus dem, wie überall, geschlossenen Deutschen Theater Berlin (DT), als Livestream im Internet kostenlos ausgestrahlt, und zwar mit erheblichem Aufwand. Und die Premiere war, wie im realen Leben, auch wirklich nur an diesem Freitagabend zu sehen, einmalig. Keine gesendete Konserve, keine Konservierung.

Mit vielen Kameras

Wobei andererseits die Regie nicht einfach in der Not die Inszenierung abfilmen ließ, sondern Hartmann mit dem Einsatz diverser Kameras, kunstvollem Bildschnitt und Videotechnik geradezu eine Filmversion zeigte. Überblendungen, monströse Nahaufnahmen der Akteure. Und auch hinter den Kulissen spielte sich das Geschehen ab – zuweilen mit Blick auf den leeren, nur vom Technikte frequentierten Zuschauerraum, in dem auch mal die Schauspieler sitzen. „Ich spreche zu einem künftigen Publikum“, heißt es einmal, beschwörend.

Thomas Mann versammelte in seinem „Zauberberg“, im Sanatorium von Davos, eine spätbürgerliche kranke Gesellschaft um Hans Castorp, die sich in einer zeitlosen Blase dem Reden hingibt. Mystik, Philosophie, Erotik, Traumverlorenheit, während unten, im Flachland, der Erste Weltkrieg heraufzieht und bald alles gewaltsam verändert. Das könnte jetzt in der Coronakrise, sagen einige Branchenkritiker mit kassandrischem Ton, auch eine Allegorie sein auf den in sich kreisenden Theaterbetrieb, der sich selbst für das Unverzichtbarste hält. Hartmanns Inszenierung zeigt dann einen Gegenbeweis: ein sich existenziell körperlich verausgabendes Ensemble, das im Untergangsstück grandiose Lebenszeichen aussendet. Ein Theater, das nicht jammert, sondern sich online, im Livestream, neu erfindet – und trotzdem sein Publikum sucht, am 13. Dezember soll tatsächlich im DT Premiere gefeiert werden.

Aber daran glaubt keiner mehr. Zwar bespricht sich Kanzlerin Angela Merkel erst am Mittwoch offiziell mit den Länderchefs, aber wesentliche Politiker haben sich schon für eine Fortsetzung des Lockdowns ausgesprochen. Das trifft dann auch die Theater, ob in Eisenach oder Flensburg mit Inzidenzzahlen von unter 50 oder in Berlin, München oder Stuttgart. Im Gegensatz zum Frühjahrs-Shutdown waren jetzt Bühnenproben erlaubt. So werden bald zahllose Produktionen auf Halde liegen – oder zumindest als Livestream gezeigt, was nur ein schwacher Trost ist, auch wenn sich ein Theater, wie beim „Zauberberg“, konkret auf eine andere Ästhetik einlässt.

Das Deutsche Theater Berlin verbuchte jetzt tausendfache Resonanz, allerdings belegte der Algorithmus von Youtube die Livestream-Premiere nach einer Weile mit einer Altersbeschränkung: Die Kunstbrüste der Kostüme wurden als echt gewertet.