Covid-19

„Schutzwall vor den Kliniken“

Die Pandemie beschert den Medizinischen Fachangestellten in den Praxen viele Überstunden. Vertreter fordern höhere Löhne und weniger Bürokratie.

13.11.2020

Von ALEXANDER OGGER

Julia Thanner aus Ulm ist Medizinische Fachangestellte. „99 Prozent der täglichen Arbeitszeit geht wegen Corona am Telefon drauf“, sagt sie. „Alles andere, wie das Schreiben von Rezepten, Abrechnungen, Laborscheine, muss da nebenherlaufen.“ Foto: Volkmar Könneke

Julia Thanner aus Ulm ist Medizinische Fachangestellte. „99 Prozent der täglichen Arbeitszeit geht wegen Corona am Telefon drauf“, sagt sie. „Alles andere, wie das Schreiben von Rezepten, Abrechnungen, Laborscheine, muss da nebenherlaufen.“ Foto: Volkmar Könneke

Ulm/Baden-Württemberg. Circa 52?000 Medizinische Fachangestellte (MFA) gibt es in Baden-Württemberg. Mit dem Beginn der Corona-Pandemie und den steigenden Patientenzahlen bei den Hausarztpraxen hat sich ihr Arbeitsablauf zugespitzt. Ihre Arbeit am Patienten und in der Verwaltung der Praxen wird dennoch selten gewürdigt.

Julia Thanner kennt das. Die 38-Jährige schloss 2003 ihre Lehre zur MFA ab und arbeitet heute in einer Hausarztpraxis in Ulm. „99?Prozent der täglichen Arbeitszeit geht wegen Corona am Telefon drauf“, sagt Thanner. „Alles andere, wie das Schreiben von Rezepten, Abrechnungen, Laborscheine, muss da nebenherlaufen.“ Dass sich viele Patienten verunsichert fühlen und sich häufiger als sonst an ihren Hausarzt wenden, kann die 38-Jährige verstehen. Gemeinsam mit drei anderen Kolleginnen werden viele Patienten in diesen Tagen zu Quarantäne und den Corona-Tests beraten. Seit einer Woche übernehmen die Fachangestellten in Ulm und im Alb-Donau-Kreis auch die Kontaktnachverfolgung. „Dazu kommt noch Vor- und Nachbereitungsarbeit am Sonntag, sonst würde am Montag gar nichts klappen“, sagt Thanner. Bei so viel Arbeit häufen sich bei ihr im Monat gut 50 Überstunden an.

Vor allem die Abrechnung der Coronatests sei aufwendig, erzählt sie. Seit dem 3.?November werden die Tests in Baden-Württemberg in drei Bereiche gruppiert: Tests, die von Patienten mit Krankheitssymptomen stammen; Tests von Menschen, die durch die Corona-Warnapp informiert wurden, und solche, die von Kontaktpersonen oder Reisenden aus Risikogebieten gekommen sind. Zuvor war es noch komplizierter. Da gab es sieben unterschiedliche Abrechnungsmöglichkeiten, deren Schlüssel mehrmals pro Monat wechselten. „Da frage ich mich schon, wer sich sowas einfallen lässt“, sagt Thanner. „Zwar sind die Tests schnell gemacht, doch den Aufwand rundherum scheint niemand zu sehen.“

Täglich erscheinen in der Ulmer Praxis 20 bis 25 Patienten, die mit dem Coronavirus zu tun haben. Von denen werden dann zwischen 15 und 18 getestet. Jedes Wochenende kommen dann noch einmal bis zu 120 Tests hinzu. Der Verwaltungsaufwand ist riesig. „Wir würden uns wünschen, dass die Labore zukünftig wenigstens schneller rückmelden, wie lange die Auswertung noch dauert. Denn: Spätestens am vierten Tag kommen die Patienten wieder und wollen wissen, was Sache ist. Diese Auskunft raubt uns natürlich wieder wertvolle Arbeitszeit.“

Ein weiteres Problem ist derzeit die Unterversorgung mit dem aktuellen Grippeimpfstoff. Das verärgert die Patienten: „Von Unfähigkeit über Unterschlagung bis hin zur Anschuldigung, wir hätten zu wenig bestellt wurde uns schon alles vorgeworfen“, berichtet Thanner. Tatsächlich kam von der in der Ulmer Praxis bestellten Menge nur ein Bruchteil an. So warten allein in dieser Praxis 95 Patienten auf eine Grippeschutzimpfung.

Dass sich der Praxisablauf für die Medizinischen Fachangestellten im Zuge der Pandemie einschneidend verändert hat bestätigt auch Stefanie Teifel, Vorsitzende des Landesverbands Süd des Verbands der Medizinischen Fachberufe. „In der Anfangszeit mussten die Praxisabläufe schnellstmöglich geändert werden, um Infektionsmöglichkeiten auszuschließen: Schilder, Pfeile, Absperrungen und Plexiglaswände mussten angebracht, Wartezimmer umgeräumt werden.“, sagt Teifel.

Harte Kritik an Minister Spahn

Harte Kritik übt die Landesverbandsvorsitzende an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Der Minister sei bis heute kein einziges Mal auf die Medizinischen Fachangestellten eingegangen. Nach Aussage Teifels würden heute 19 von 20 Coronapatienten ambulant und nicht stationär behandelt. Damit würden die Arztpraxen einen „Schutzwall vor den Kliniken“ bilden und so Intensivbetten freihalten.

Immerhin können sich die Fachangestellten seit dem 14.?Oktober einmal pro Woche kostenlos testen lassen. Zu Beginn der ersten Pandemiewelle galt das noch nicht. „Für mich war das nur ein weiteres Zeichen dafür, dass das Praxispersonal nicht ausreichend wahrgenommen wurde“, sagt die Vorsitzende.

Teifel verlangt eine Vereinfachung der derzeit sehr unübersichtlichen Verwaltungsbürokratie, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Außerdem müsse sich die Wertschätzung der Arbeit auch finanziell widerspiegeln. Der Verband der Medizinischen Fachberufe kämpft deshalb in der seit dem 3.?November laufenden Tarifrunde für eine Lohnsteigerung von 150?Euro.

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Erstellt:
13.11.2020, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 56sec
zuletzt aktualisiert: 13.11.2020, 06:00 Uhr

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