Cold Case

Schuldig „ohne jeden Zweifel“

Heimtückischer Mord: Der Angeklagte im Fall Brigitta J. muss lebenslang hinter Gittern. Das Motiv bleibt unklar.

08.07.2021

Von DOMINIQUE LEIBBRAND

Vom Topmanager zum Kriminellen: Hartmut M. ist erneut für die Tötung einer Frau verurteilt worden. Foto: Marijan Murat/dpa

Vom Topmanager zum Kriminellen: Hartmut M. ist erneut für die Tötung einer Frau verurteilt worden. Foto: Marijan Murat/dpa

Stuttgart/Sindelfingen. Hartmut M. stützt sich mit einer Hand auf den Tisch vor ihm ab, als er sein Urteil empfängt. Norbert Winkelmann, Vorsitzender Richter der 19. Strafkammer des Landgerichts Stuttgart, macht es schnell: „Der Angeklagte wird wegen Mordes verurteilt.“ Ein Satz, bei dem sich im voll besetzen Saal kollektiv die Anspannung der vergangenen zehn Monate zu lösen scheint. Nicht nur bei den Angehörigen des Opfers fließen Tränen.

Damit sieht es das Gericht als erwiesen an, dass der einstige Topmanager und dreifache Vater die Stuttgarterin Brigitta J. am späten Abend des 14. Juli 1995 mit 23 Stichen getötet hat. Nach heutigem Kenntnisstand der Anfang seines Absturzes in die Kriminalität: 2007 war er wegen Totschlags verurteilt worden, weil er 2001 der Obersontheimerin Magdalene H. die Kehle durchgeschnitten haben soll. Vor dieser Verurteilung hatte er obendrein versucht, den Shell-Konzern um Millionen zu erpressen.

Den Schmerz könne er ihnen nicht nehmen, er hoffe aber, dass „dieses Urteil ein gewisser Ausgleich“ sein könne, sagt der Richter zu den Angehörigen von Brigitta J., die ein Vierteljahrhundert auf diese Entscheidung gewartet haben. Neben der Schwester und dem Bruder sind zwei Nichten anwesend.

Die Entscheidung war auch deshalb mit großer Spannung erwartet worden, weil klar war, dass der mittlerweile 71-Jährige wegen der Verjährungsfristen nur bei einer Verurteilung wegen Mordes hinter Gittern landen würde. Die Motivation des Angeklagten, der zur Sache stets geschwiegen hatte, sei bis zuletzt im Dunkeln geblieben, sagt Winkelmann. „Das verändert das Urteil aber nicht.“ Nach der Beweislage sei er „ohne jeden Zweifel“ von Hartmut M.s Täterschaft überzeugt. Dieser habe Brigitta J. heimtückisch ermordet.

Fester Tötungsvorsatz

Es ist 23.28 Uhr, als die Stuttgarterin an jenem 14. Juli bei ihrer Arbeitsstelle in Sindelfingen ausstempelt und sich auf den Weg zur S-Bahn-Haltestelle Goldberg macht. Dort kommt sie jedoch nie an. Gegen 23.40 Uhr sei sie, so das Urteil, in der Tilsiter Straße vom Angeklagten, der zuvor mit einem Kollegen in einem Biergarten gewesen sei, unvermittelt angegriffen worden. M. habe die Künstlerin zuvor erspäht, habe sein Auto geparkt und sei, bewaffnet mit zwei Stichwerkzeugen, vermutlich einer Vierkant-Ahle und einem Messer, „aus einem nicht erklärbaren Grund“ mit einem festen Tötungsvorsatz auf sie losgegangen. Die junge Frau habe die Attacke weder erahnen, noch habe sie sich dagegen wehren können, auch wenn sie es noch versucht habe. Indiz dafür ist für den Richter der schnelle Ablauf. Um 23.42 Uhr, zwei Minuten nachdem Opfer und Täter aufeinander getroffen sein müssen, setzen Zeugen schon den ersten Notruf ab. Kurze Zeit später stirbt die junge Frau.

Hartmut M., damals 45 Jahre alt, gerät zwar bereits kurz nach der Tat ins Visier der Polizei, weil ein Honda, wie er ihn damals fährt, am Tatort von mehreren Zeugen gesehen wurde. M. kommt aber davon, nachdem sein Alibi nicht näher überprüft wird. Ein Alibi, das der Richter aus heutiger Sicht als falsch einstuft. M. könne nicht bis nach Mitternacht im Biergarten gesessen haben, wie er es angegeben hatte, weil der da schon geschlossen gewesen sei. Da das damals aber nicht gecheckt wird, wird M. erst Anfang 2020 verhaftet, nachdem die Fahnder mittels neuerer DNA-Technik einen Treffer landen.

Für Norbert Winkelmann sind diese DNA-Spuren „ein überragendes Beweismittel“, vor allem, weil sie unter den Fingernägeln des Opfers gefunden worden waren. Da Täter und Opfer vor dem Angriff keinerlei Kontakt zueinander gehabt hätten, ließen sich diese Spuren nur im Zusammenhang mit der Tat erklären.

Die Zeugenaussagen seien zwar teilweise konträr – zwei US-Soldaten und vier Insassen eines roten BMW kamen zufällig am Tatort vorbei und hatten Kontakt zum Täter – es gebe aber etwa bei Größe und Haarfarbe des Täters auch Übereinstimmungen. Zudem habe der Hauptzeuge, der pensionierte US-Pilot Dennis B., M. auf Fotos „eindeutig wieder erkannt“.

Zu den bis zuletzt ungelösten Rätseln des Falls gehört neben der Frage nach dem Motiv der Umstand, dass die Ermittler lange von zwei Fahrzeugen am Tatort sowie möglicherweise von zwei beteiligten Männern ausgegangen waren. Die BMW-Insassen hatten einen Honda gesehen, die beiden US-Zeugen aber ein goldgelbes Handwerkerauto. Das Gericht kam letztlich zur Überzeugung, dass es am Tatort nur ein Fahrzeug und nur einen Täter gegeben haben kann und die US-Zeugen, von der Tat tief beeindruckt, wohl ein Auto wahrnahmen, das nicht existierte.

Das Urteil bedeutet für Hartmut M. lebenslange Haft. Frühestens in 15 Jahren kann er mit einer Entlassung rechnen. Ein juristisches Nachspiel ist nicht ausgeschlossen, seine Anwälte wollen in Revision gehen.

Angehörige der Opfer: die Tochter von Magdalene H. (links) und die Schwester von Brigitta J. Foto: Dominique Leibbrand

Angehörige der Opfer: die Tochter von Magdalene H. (links) und die Schwester von Brigitta J. Foto: Dominique Leibbrand