Verbrechen

„Schüler rochen nach Hunger“

Ein Massengrab mit menschlichen Überresten von 215 Kindern schreckt Kanada auf. Es zeugt von menschenverachtendem Umgang mit Ureinwohnern.

18.06.2021

Von Elisabeth Zoll (mit Agenturen)

Mit Blumen erinnern Einwohner von Kamloops an die 215 toten Kinder auf dem Gelände der Residential School in Kanada. Foto: Imago/Jonathan Hayward

Mit Blumen erinnern Einwohner von Kamloops an die 215 toten Kinder auf dem Gelände der Residential School in Kanada. Foto: Imago/Jonathan Hayward

Nicht nur der Gesprächsbedarf ist riesig: Die Kanadische Bischofskonferenz hofft, dass sich noch in diesem Jahr eine Delegation indigener Völker mit Papst Franziskus im Vatikan treffen kann. Das Oberhaupt der katholischen Kirche soll Älteste und Wissensbewahrer, Überlebende von Internatsschulen und Jugendliche anhören. Es dürfte ein schmerzhafter Austausch werden. Denn erst vor kurzem ist auf dem Gelände eines Umerziehungsheims für Indigene ein Massengrab mit Überresten von 215 Kindern entdeckt worden. Die Residential School in der Stadt Kamloops wurde lange von einem katholischen Missionsorden geleitet.

Die Einrichtung in der westlichen Provinz British Columbia gehörte zu einem Netz aus 139 Umerziehungsheimen für Kinder kanadischer Ureinwohner. Sie wurden ihren Familien entrissen und auf die Schulen geschickt. Dort sollten sie ihre Sprache, ihre Lieder, ihre Kultur vergessen und die Lebensweise der weißen Einwanderer annehmen.

Seit 1890 gab es solche Einrichtungen. Die letzte wurde 1996 geschlossen. Freiwillig war die Umerziehung der Kinder für die Familien nicht. Eltern mussten darauf eingehen, wollten sie nicht aus dem Netz staatlicher Unterstützung fallen. Rund 150?000 Kinder indigener Familien haben diese Einrichtungen durchlaufen. Viele kamen entwurzelt oder seelisch gebrochen zu ihren Familien zurück. Von manchen fehlt bis heute jede Spur.

Zumindest in Kamloops ist man nun einer schrecklichen Wahrheit nähergekommen. Spezialisten entdeckten dort die Überreste von 215 Kindern. Das jüngste war drei Jahre alt.

Wann und woran die Jungen und Mädchen gestorben sind, ist noch unklar. Kamloops war Sitz der größten „Residential School“ in Kanada. Sie wurde 1890 von der katholischen Kirche eröffnet, 1969 an staatliche Behörden übergeben und 1978 geschlossen.

Rosanne Casimir (Tk'emlups te Secwepemc First Nation). Foto: Cole Burston/afp

Rosanne Casimir (Tk'emlups te Secwepemc First Nation). Foto: Cole Burston/afp

Bis zu 500 Kinder sollen dort gelebt haben. „Jeder Schüler roch nach Hunger“, sagt ein Überlebender über die Zustände in diesem Haus. Die Einrichtung sei extrem unhygienisch gewesen. Viele Kinder seien an Masern, Tuberkulose oder Grippe gestorben.

Die kanadische Regierung hatte bereits 2008 eine Wahrheitskommission eingerichtet, die das Schicksal indigener Schulkinder untersuchte. Mehr als 7000 Aussagen sammelten die Verantwortlichen. Der 2015 veröffentlichte Abschlussbericht zeugt von großen Grausamkeiten.

„Dieser Bericht handelt von vorsätzlichem Völkermord im Hinblick auf Rasse, Identität und Geschlecht“, fasste die damalige Chefin der Untersuchungskommission, Marion Buller, zusammen. Kinder wurden geschlagen oder gezwungen, ihr Erbrochenes zu essen. Auch von sexueller Gewalt und Psychoterror berichteten ehemalige Schüler. Tausende Kinder sollen in diesen Einrichtungen zu Tode gekommen sein. Die Zahlen schwanken zwischen 3000 und 6000.

Das Geschehen in den Umerziehungsheimen hatte lange Zeit wenig interessiert. Behörden mauerten. Vor allem die katholische Kirche, die rund 60 Prozent dieser Einrichtungen unterhielt, blendete das Thema aus.

Der kanadische Premier Justin Trudeau macht ihr deshalb schwere Vorwürfe. Sie weigere sich, „Verantwortung“ und ihren „Anteil an Schuld“ bei der Verwaltung der Internate anzuerkennen. Trudeau droht mit „stärkeren Maßnahmen“ seiner Regierung, um die von den Opferfamilien geforderte Herausgabe von Dokumenten zu erzwingen.

Auch UN-Menschenrechtsexperten fordern rasche Aufklärung. Alle verdächtigen Todesfälle müssten geprüft und sterbliche Überreste forensisch untersucht werden. In einer Stellungnahme heißt es dazu, es wäre „schlicht unvorstellbar“, wenn der kanadische Staat und der Vatikan die Verantwortlichen ungeschoren davonkommen ließen und sich nicht um eine Entschädigung kümmerten.

Papst Franziskus soll nun reagieren. Nicht nur Rosanne Casimir, Oberhaupt der Tk'emlups te Secwepemc First Nation, fordert eine öffentliche Entschuldigung des Vatikans. Ein direktes Gespräch in Rom könnte dem Nachdruck verleihen.

First Nations

Mit First Nations (französisch: Premières Nations, deutsch: Erste Nationen) werden fast alle indigenen Völker in Kanada bezeichnet. Der Begriff tauchte Anfang der 1980er Jahre erstmals auf. Von den rund 700.000 Menschen, die sich als Indianer verstehen, zählen etwa 565.000 zu den 617 vom Staat anerkannten Stämmen.

Zum Artikel

Erstellt:
18.06.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 51sec
zuletzt aktualisiert: 18.06.2021, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Prost Mahlzeit
Sie interessieren sich für gutes und gesundes Essen und Trinken in den Regionen Neckar-Alb und Nordschwarzwald? Sie wollen immer über regionale Gastronomie und lokale Produzenten informiert sein? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Prost Mahlzeit!