Schockierende Knochenfunde in Kanada

Umerziehungsinternate sollten „den Indianer im Kind“ töten

Die Überreste von mehr als 1000 Menschen wurden seit Ende Mai in dem Land gefunden. Sie zeugen vom brutalen Umgang mit Kindern von Ureinwohnern in Internaten.

02.08.2021

Von dpa

Als Ende Mai die Überreste von mehr als 200 Kindern von Ureinwohnern bei einem früheren Internat in Westkanada entdeckt wurden, war Crystal Fraser nicht überrascht. „Wir wissen seit Jahrzehnten, sogar mehr als einem Jahrhundert, dass viele unserer Vorfahren und unmittelbaren Familienmitglieder nicht von den Internatsschulen nach Hause kamen“, sagt sie. Fraser ist Historikerin an der Universität von Alberta und auch Angehörige der indigenen Gruppe der Gwichyà Gwich'in.

Knochen von mehr als 1000 Menschen wurden seit Ende Mai durch den Einsatz neuer Technologie im Umkreis ehemaliger Anstalten gefunden. Diese Umerziehungs-Internate für Töchter und Söhne von Ureinwohnern sollten „den Indianer im Kind töten“, wie Fraser es ausdrückt. Lange hatte Kanada seine dunkle Geschichte ignoriert. Nun erhöhen die Knochenfunde den Druck auch auf Ottawa.

Die Internate in Kanada existierten mehr als 100 Jahre. Ihren Anfang nahmen sie mit einer ersten Schule des Franziskanerordens im 17. Jahrhundert. Ein System aber entstand erst nach der Gründung der kanadischen Föderation 1867 – die von der Regierung 2008 eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission zählte 139 Schulen, die indigene Kinder zwangsweise besuchen mussten. Die letzten wurden 1996 geschlossen, schätzungsweise 150 000 Kinder waren betroffen.

„Wir wissen nun, dass es ein System des Völkermords war“, erklärt Expertin Fraser. Körperliche und sexuelle Misshandlungen waren bei den von der Kirche betriebenen Anstalten an der Tagesordnung. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission nannte das Vorgehen in ihrem Abschlussbericht „kulturellen Genozid“.

Mit dem System hatten die kanadischen Siedler Fraser zufolge versucht, die freien indigenen Völker einzugemeinden, ihnen heteronormative Vorstellungen, Sprache und den Kapitalismus aufzudrängen. Die Schüler seien unter anderem an Krankheiten, Unterernährung oder bei Unfällen zum Beispiel mit kaputten landwirtschaftlichen Geräten gestorben. Die Sterblichkeitsrate habe in einigen Institutionen in bestimmten Jahren bei bis zu 70 Prozent gelegen, sagt Fraser. Nun wird überall im Land auf früheren Schularealen mit neuartiger Radartechnik nach nicht gekennzeichneten Gräbern gesucht.

Die Toten wurden in mehreren kanadischen Provinzen entdeckt – und jede neue Entdeckung sendet Schockwellen durch Land. „Ich weiß, dass diese Entdeckungen nur den Schmerz verstärken, den Familien, Überlebende und alle indigenen Völker und Gemeinschaften bereits empfinden“, sagte Premierminister Justin Trudeau. Mehrere Kirchen, die auf dem Land indigener Gruppen stehen, wurden in Brand gesteckt oder verwüstet. Trudeau – selbst Katholik – verurteilte die Gewalt, äußerte sich aber auch verständnisvoll: Die Wut sei „völlig verständlich“. In einem eher symbolischen Schritt machte er mit Mary Simon die erste Indigene zur Generalgouverneurin – und damit zur Vertreterin von Königin Elisabeth II. als Staatsoberhaupt.

Der Premier nimmt auch den Vatikan ins Visier: Papst Franziskus solle nach Kanada reisen und sich gegenüber den Ureinwohnern entschuldigen, forderte er. Das Kirchenoberhaupt selbst nannte die Funde „erschütternd“. Zum Stand der Ermittlungen durch die Kirche und der Rolle des Vatikans bei der Aufklärung gab es zunächst keinen Kommentar. Im Dezember soll der Papst eine Delegation Indigener aus Kanada empfangen, darunter auch Überlebende aus den Internaten.

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Erstellt:
02.08.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 32sec
zuletzt aktualisiert: 02.08.2021, 06:00 Uhr

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